Das Matrazenhaus
versuchte sich Irene neben ihr vorzustellen. Es ging nicht.
Tamara Shafar berichtete von einem sechzehnjährigen Mädchen, das innerhalb eines Dreivierteljahres siebenmal bei ihr in der Ambulanz gewesen sei, jedes Mal wegen einer ausgewachsenen Vaginalinfektion. In den Abstrichen habe man verschiedene Keime gefunden, Gonokokken, Trichomonaden, Pilze – was der einschlägige Tiergarten halt so hergebe. Zusätzlich sei sie diesmal auch schwanger, zehnte Woche, soweit man das in dieser Phase sicher sagen könne. Auf die Frage nach ihrem Sexualleben habe sie den Blick gesenkt und gesagt, sie habe keins und die Schwangerschaft könne sie sich nicht erklären. Erst als sie sie gefragt habe, wie man das ihrer Mutter begreiflich machen solle, sei sie aufgewacht und habe gesagt: »Gar nicht. Sie dürfen ihr nichts sagen, von Gesetzes wegen, das weiß ich.« Als sie nachgefragt habe: »Und wenn ich’s doch tue?«, habe das Mädchen gesagt: »Dann zeige ich Sie an.« Horn dachte an Sabrina, an Fehring und an all die anderen, die mit Vehemenz ihr Recht auf Selbstschädigung einforderten. Am Ende dachte er an Tobias, daran, dass er mit Sicherheit kiffte und ausnahmslos alles, was als Hilfe gemeint war, als Zumutung ablehnen würde. Wenn er derartige Geschichten hörte, Vaginalinfektion und Schwangerschaft, war er trotzdem froh, dass er zwei Söhne hatte. Christina trat ihn gegen das Schienbein. Tamara Shafar sprang auf und beugte sich weit über den Tisch. »Und glauben Sie wirklich, dass das hilfreich ist?!« Horn wich zurück. Innerhalb einer halben Sekunde begriff er. »Ich weiß, das taugt jetzt nicht als Entschuldigung«, stammelte er, »aber ich neige dazu, laut zu denken.« Tamara Shafar ließ sich in ihren Sessel fallen und warf die Arme auseinander. »Ich könnte auch mit Töchtern gut leben«, murmelte Roman Wagner. Sein Versprechen, auf blöde Bemerkungen zu verzichten, gelte aus ihrer Sicht nach wie vor, fauchte Shafar, und außerdem solle man ihr bitte endlich sagen, was sie von der Geschichte dieser Göre halten solle. »Lässt sie von sich aus jeden in sich hinein oder zwingt sie jemand dazu?« Das genau seien die beiden Möglichkeiten, sagte Renate Mutz, aber so oder so könne man gegen ihren Willen nichts tun. Sie habe ein Recht auf freie Ausübung ihrer Sexualität und könne diesbezüglich nicht vor schlechten Erfahrungen und schon gar nicht vor Besonderheiten in der Wahl ihrer Partnerbewahrt werden. »Besonderheiten in der Wahl ihrer Partner ist gut«, sagte Strasser, »würden Sie das genau so formulieren, wenn es Ihre Tochter wäre?« Die Sozialarbeiterin gab keine Antwort. Sie halte jene Kinderärzte nicht aus, sagte sie manchmal, für die Mütter prinzipiell Analphabetinnen und Stillen und das Anlegen einer Windel medizinische Maßnahmen seien, und jene schon gar nicht, die ständig ihre eigenen Kinder ins Spiel brächten. »Gib mir ihre Telefonnummer, ich lade sie zu einem Gespräch ein«, sagte Lisbeth Schalk zu Tamara Shafar, und damit war die Angelegenheit in der Sekunde entspannt. Sie nimmt die Sache in die Hand, dachte Horn, genau so, wie sie es auf dem Bauernhof gelernt hat, auf dem sie aufgewachsen ist. Mit Wiesenblumen kennt sie sich aus, mit Schwangerschaften und möglicherweise auch damit, dass man als Mädchen ab und zu von jemandem gevögelt wird, von dem man das gar nicht will.
In der Folge berichtete Wagner von einem vierjährigen Buben, der eine Pfanne mit heißem Kokosfett vom Herd gerissen und sich großflächige Verbrennungen an der Brust zugezogen hatte, und Renate Mutz von einer Familie, die im Zustand extremer Verwahrlosung in einer ehemaligen Jagdhütte zwischen Furth und Sankt Christoph hause, Fließwasser vor der Tür, ohne Strom. Sie war dabei, die Verfassung zu schildern, in der die Kollegin vom Jugendamt die drei Kinder angetroffen hatte, speziell den Lausbefall bei der eineinhalbjährigen Jüngsten, als die Tür aufging.
Leuweritz war nicht größer als eins siebzig und lief Marathon. Das helfe einem, gelassen zu bleiben, wenn die Spitze des Zaunpfahles den Herzbeutel berühre, sagte er, außerdem sei es gut für lange Operationen und lästige Chefs. Er war erster Oberarzt an der Unfallchirurgie und von Anfang an mit Lissoni heftig im Clinch gelegen. Horn hatte ihn allerdings schon vorher gemocht. »Was sucht die Traumatologie in diesen armen Räumen?«, fragte Wagner. Leuweritz ignorierte die Bemerkung und zog ein Ambulanzblatt aus der Manteltasche. »Sen Wu«, sagte
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