Das Matrazenhaus
keine Messingschilder von Arzt- oder Anwaltspraxen. In einem der Vorgärten war ein Mann mit dem Rasentrimmer unterwegs. Eine gut gepflegte Zwangsstruktur ist der Motor der europäischen Gesellschaft, dachte Horn, das Trimmen von Rasen, das Formulieren von Nahrungsmittelstandards und das Einsperren der Menschen in das Korsett eines uniformen lebenslangen Lernens. Dahinter nichts als Gier und Hass; bestenfalls waren die Akzente ein wenig verschoben: etwas mehr infantile Oralität in Italien, mehr aggressiver Narzissmus in Frankreich und in Österreich diese freundliche Variante der Bösartigkeit, die in Wahrheit nichts anderes darstellte als die Abwehr der Gewissheit einer permanenten Erektionsschwäche. »Bei uns vögelt man nicht so gerne«, hatte seine Lehranalytikerin einmal gesagt, »bei uns geht man lieber in die Kirche oder auf Elternsprechtage und hintennach macht man andere Leute fertig.«
An der Abzweigung zur Linzer Straße kam ihm ein Streifenwagen entgegen. Er dachte an die Kriminalbeamtin, die ihn zuletzt zweimal besucht hatte, erst mit Felix Szigeti, dann mit Britta, dem blonden Mädchen, dessen Familienname ihm entfallen war. Die junge Frau hatte etwas außerordentlich Beruhigendes gehabt, im Umgang mit den Kindern und überhaupt. Er stellte sich vor, wie sie hinter dem Steuer saß, anhielt, das Fenster öffnete und ihn fragte, ob er nicht mitfahren wolle. Er würde einsteigen und sie die ganze Zeit von der Seite anblicken. Als ihn der Wagen passierte, nahm er durch die Windschutzscheibe zwei Uniformierte wahr. Einer von ihnen war Töllmann, den anderen kannte er nicht. Töllmann galt als der Drogenspürhund der Further Polizei, instinktsicher im Auffinden illegaler Substanzen und unerbittlich im Zugriff. Die Junkies hassten ihn, sein Kollege Mike Dassler, der Leiter des Suchtreferates, ebenfalls. Dassler verfolgte eine gemäßigte Linie; Töllmann ignorierte es und wurde regelmäßig grob, wenn jemand beim Leeren der Taschen ein wenig zögerte. Zuletzt hatte er den dreizehnjährigen Diego Veith in Handschellen an die Abteilung gebracht, weil er nach einer Leibesvisitation gesagt hatte, er werde nicht nur seine beschissenen Eltern, sondern auch ihn, Töllmann, abstechen, sobald er Gelegenheit dazu habe. Raimund hatte Töllmann gefragt, ob denn die Fesselung bei einem Kind wirklich notwendig sei, und Töllmann hatte gesagt, das sei halt die alte Schule, außerdem sei ein dreizehnjähriger Verbrecher in erster Linie Verbrecher und nicht Kind. Horn sah plötzlich Tobias vor sich, wie er mit einem Pot-Pfeifchen zwischen den Lippen von Töllmann erwischt und in Handschellen abgeführt wurde, und er sah sich selbst einen Revolver heben und auf Töllmann anlegen. Er fühlte sich nicht schlecht dabei.
Einige Stunden später stiegen sie die Treppe zur Kinderabteilung hoch. Sie sprachen darüber, dass Margot Frühwald noch während der Aufnahmeprozedur auf P2 einen Grand-Mal-Anfall hingelegt und sich nur langsam erholt hatte, über Marcus, der seit dem Erwachen aus der Sedierung mit geschlossenen Augen auf dem Bett saß, eine Hand auf dem Corpus seiner Dark Fire , und kein Wort sprach, und über Sabrinas Vater. Der Mann war in einem groß gemusterten Wollsakko und einem hellgrünen Hemd vor der Abteilung auf und ab gestelzt, hatte lauthals Pseudoprofessionalität verströmt und versucht, seine Tochter zu sehen. Sabrina hatte gedroht, sich den kleinen Finger abzuschneiden, sobald man ihn hereinlasse, nicht einmal zehntausend Euro könnten sie abhalten, worauf Leonie Wittmann zu ihm hinausgegangen war und gesagt hatte, der Preis sei zehntausend Euro und selbst dann gebe es eine gewisse Unsicherheit, ob Sabrina ihn auch tatsächlich zu sich lassen werde. Hundertprozentig werde sie, hatte der Mann gesagt, und wenn er dazu mit seinem Anwalt aufkreuzen müsse, und Leonie Wittmann hatte geantwortet, er solle das ruhig tun, seine Tochter werde sich dann vermutlich auch den Ringfinger amputieren. »Der Mann riecht nach Rasierwasser und Katzenpisse, trägt das fürchterlichste Sakko der Welt und ist absolut sicher, dass ihm keiner etwas anhaben kann«, sagte Renate Mutz, die Sozialarbeiterin. »Was auch stimmt«, antwortete Christina. Kinderficker, dachte Horn, und war erstaunt über die Banalität des Wortes. Bei manchen Männern wusste man es, sobald man sie sah. Ein wenig von diesem Wissen konnte man erklären: Es war eine Mischung aus Selbstverliebtheit und Schmierigkeit, eine ausgesprochene Tendenz zum
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