Das Matrazenhaus
Lara, die neben ihr steht. Sie sagt: »Das siehst du doch gar nicht«, und Lara sagt: »Das sehe ich doch.« Sie gibt ihr einen kleinen Hüftstoß. Longbottom, der auf der anderen Seite sitzt, spürt das und protestiert.
Ich bin der Evangelist, hat er gesagt, nur damit du dich auskennst. Jetzt steht er tatsächlich vor dem Mikrophon und liest den Erzähltext des Matthäus. Wilhelm mit seiner Marlboro-Stimme liest die Worte des Herrn und Thomas, der aussieht wie ein Mittelschüler, aber Theologie und Geschichte fertigstudiert hat, liest, was alle anderen sagen.
Julia und Sophie tuscheln die ganze Zeit und Günseli sagt laut: »Das ist ja urbrutal«, als dem Knecht des Hohepriesters das Ohr abgeschlagen wird. Longbottom fängt leise zu singen an.
Wilhelm hat in Summe wenig zu sagen und scheint dieses Manko durch einen besonders dramatischen Ton kompensieren zu wollen. Zum Beispiel spricht der Verräter Judas zu ihm: Sei gegrüßt, Rabbi! Er sagt darauf: Freund, tu, wozu du gekommen bist!, und man meint, Wilhelm möchte dem armen Thomas auf der Stelle zumindest einen Hammer und ein paar Nägel in die Hand drücken.
Sie merkt, wie sie diese pathetische Männergeschichte mit nichts als Hohepriestern und Ältesten und diesem feigen Arsch von Pilatus zunehmend anspannt. Ihre Knie zucken und etwas zwingt sie, die Handtasche ständig auf und zu zu machen. »Hinter dir sitzt Elisabeth Vock aus der Zwei A«, sagt Lara, als sie sich zum dritten Mal umdreht. »Danke«, flüstert sie Lara ins Ohr, »aber ich glaube, ich muss demnächst aufs Klo.« Sie versucht sich noch einmal die fliegenden Glocken vorzustellen, um sich abzulenken, doch es gelingt nicht. Etwas sitzt ihr im Nacken.
Bauer liest das Eli, Eli, lema sabachthani ganz wunderbar, ein wenig beiläufig und trotzdem eindringlich, das bekommt sie am Rand noch mit. Als Jesus schließlich stirbt und für eine kurze Weile Stille eintritt, befindet sie sich schon hinten unter der Orgelempore, und als sich die Felsen spalten und im Tempel von Jerusalem der Vorhang von oben bis unten entzweireißt, stürzt sie ins Licht hinaus, über und über voller Schweiß. Ein junger Polizist in Uniform tritt auf sie zu und fragt besorgt, ob er ihr helfen kann. Sie schüttelt den Kopf. »Danke«, sagt sie, »mir ist nur schlecht vom Weihrauch.«
Sie sitzt auf der Treppe, als er etwas später herauskommt, im Messgewand, einen Kelch in der Hand. »Spinnst du?!«, fragt sie. »Ja«, sagt er, »das weißt du doch.« Er setzt sich neben sie und fragt, ob sie vielleicht unterzuckert sei; er könne mit zirka zwanzig Deka Hostien aushelfen. Er ist verrückt, denkt sie, aber er kümmert sich um mich. »Fehlst du denen nicht?«, fragt sie. Nein, sagt er, es habe gerade die Kommunionspende begonnen, da falle es nicht auf, wenn er ein paar Minuten weg sei. Er stellt den Kelch ab, lehnt sich zurück und singt leise: I’m pale as a ghost / Holding a blossom on a stem / You ever seen a ghost? No / But you have heard of them.
»Manchmal kommen die alten Dinge wieder, einfach so«, sagt sie, »ich kann nichts dagegen tun.«. Er streicht mit seiner Hand über ihren Nacken. »Genau hier«, sagt sie, »genau hier blasen sie mich kalt an.« »Ich weiß«, sagt er.
Eine Weile sprechen sie gar nichts, dann fragt sie ihn, ob Kirchenglocken Landeklappen besitzen. Er lacht laut auf und hilft ihr auf die Beine. Kurz vor dem Portal bleibt er stehen. Er habe da drin auch eine Art Déjà-vu erlebt, sagt er, viel harmloser als das ihre. Auf der rechten Seite, im hinteren Drittel, habe er jemanden gesehen, der kurze Zeit bei ihnen im Kloster gewesen sei. Der Mann sei allerdings bald wieder rausgeflogen, weil er so viel gestohlen habe.
Super, denkt sie, als sie sich im Mittelgang an den Menschen vorbeidrückt, einer hört Stimmen, der andere stiehlt, und irgendwo da vorne singt ein Hund.
Vierzehn
Im Sozialraum gluckerte die Kaffeemaschine, es roch nach Vanille und Vessy lachte. Auf dem Tisch stand ein Strauß mit Glockenblumen, Schafgarbe und wildem Hafer. Manche Dinge passten auf seltsame Weise zusammen. »Was ist?«, fragte Herbert. Vessy konnte noch nicht. Eine russische Psychiatrieschwester, die ansonsten mürrisch ist wie ein Bär, sitzt da und scheppert vor Lachen, dachte Horn, es scheint ein guter Vormittag zu werden. Er schnupperte und fragte, woher der Vanillegeruch stamme. Herbert schnupperte ebenfalls und grinste: »Welcher Vanillegeruch?« Die Tochter von Frau Steininger habe eine Ladung
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