Das Matrazenhaus
in den Stunden und sie kommt nicht.«
»Und du ärgerst dich?«
Ja, das auch, aber das sei nicht so wichtig. Sondern, fragte er, was sei wichtig.
»Dass ich einfach dasitze und es einen Ort gibt, an dem sie sein könnte, real und in mir, das ist wichtig«, sagte Leonie Wittmann. Manche Menschen haben viel Platz in sich, dachte Horn, und andere gar keinen, in manche kannst du dich hineinbegeben und dir eine Ecke aussuchen und dich hinlegen, und bei manchen sieht es von außen schon so eng aus, dass du lieber gleich wieder kehrtmachst. Er war nah dran, zu fragen, welche Rolle ihre Tochter spiele, wenn sie mit jemandem wie Sabrina arbeite, dann fielen ihm aber die Gerüchte um die Verpackungsmüllskulpturen ein und er ließ es bleiben. Sie interessiert mich, dachte er, und sie gibt nichts preis, ich möchte wissen, was sie zum Frühstück isst, ob sie eine Katze hat oder eine Schildkröte, und sie sagt nichts. Eigentlich möchte ich auch wissen, wie es sich anfühlt, einen Mund mit solchen Zähnen zu küssen, dachte er und hielt sich zur Sicherheit einen Finger an die Lippen. Sie grinste trotzdem.
Alle seien da, sagte Andrea Emler, und wenn sie Kameras um den Hals hätten, könnte man sie glatt für eine japanische Touristengruppe halten. Chinesen, sagte Horn, es handle sich um Chinesen, und Andrea Emler sagte, Chinesen, Japaner, Koreaner – für sie seien die alle gleich und in Stückzahlen von mehr als fünf schlecht auszuhalten. Mir geht es genauso, dachte Horn, aber ich sag’s nicht. Obendrein waren es geradeaus fünf und nicht mehr, die da im Ambulanzbereich warteten, plus als Zugabe ein mächtiger Mann, den er nicht kannte, jedenfalls eindeutig kein Chinese.
Sie habe gedacht, er wolle vielleicht mit der ganzen Familie sprechen, sagte die Frau, die als Erste auf Horn zukam, außerdem habe ihr Sohn zwar inzwischen eine gewisse Routine im Umgang mit Ärzten und Spitälern, aber unter einem Psychiater habe er sich nichts Rechtes vorstellen können, sie selbst, ehrlich gesagt, auch nicht. »Psychiater sind eigenartig«, sagte Horn, »sie tragen keine weißen Mäntel, daher erkennt man sie nicht, sie wollen alles wissen und wenn man sie etwas fragt, sagen sie entweder gar nichts oder Ich fürchte, mit dieser Unsicherheit werden sie leben müssen .« Die beiden Mädchen tuschelten, während der Mann zögerlich an die Seite seiner Frau trat. Er versuchte ein Lächeln und streckte Horn die Hand hin. Der Bub blieb sitzen und schaute zum Fenster hinaus. Er trug den linken Arm abgewinkelt in einem Gilchrist-Verband. Sie haben kaum etwas von Touristen, das ist gut, dachte Horn, nichts Lautes und eine nur minimale Tendenz, den Anderen über den Haufen zu rennen. Der Mann im Hintergrund erhob sich. Er war noch riesenhafter, als es ursprünglich den Anschein gehabt hatte. »Sie sind größer als ich«, sagte Horn, »und ich bin fast eins neunzig.« »Tut mir leid«, sagte der Mann. Er heiße Mauritz, sei an und für sich Leiter und einziges ständiges Mitglied der hiesigen Spurensicherung. Er ersetze ausnahmsweise die Frau Kollegin Wieck, die durch die schwarze Glocke extrem ausgelastet sei. Mit Kindern kenne er sich ein wenig aus, auch wenn sein eigener Sohn nicht einmal noch ein Jahr alt sei. Mit Sen, der diesbezüglich sehr interessiert sei, habe er übrigens ausgemacht, ihm demnächst seine kriminaltechnische Hexenküche zu zeigen. »Ich habe den kleinen Sohn vom Herrn Inspektor schon gesehen, weil die Frau vom Herrn Inspektor ist meine Chefin«, sagte Frau Wu und strahlte. Der große Inspektor zuckte mit den Schultern. Es stimme leider, sagte er. Seine Frau sei die Leiterin der mobilen Altenbetreuung der Stadt und Frau Wu arbeite dort als Pflegehelferin. Die Frau Elisabeth sei eine super Chefin, sagte Frau Wu, und der kleine Nikolaus ein entzückender Bub, von dem man noch nicht sagen könne, wem er ähnlich schaue. »Meiner Frau, Gott sei Dank«, unterbrach der Inspektor, »diese Menschen sind sowas von höflich.« In den verrücktesten Situationen wird die Idylle geboren, dachte Horn; seine Frau ist ihre Chefin, sie findet seinen Sohn süß und die beiden Männer haben die gleiche Igelfrisur. Sogar der Größenunterschied zwischen dem Inspektor und Herrn und Frau Wu kam ihm plötzlich gering vor.
Während Horn mit dem Inspektor und dem Buben zu seinem Zimmer ging, fiel ihm ein Satz ein, den er wegen seiner hysterischen Symbolik eigentlich nicht mochte: Das macht keinen schlanken Fuß . »Finde ich
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