Das Matrazenhaus
Westen über den Rathausplatz, auf der Severinstraße nach Norden bis vor die Brücke, östlich den Fluss entlang und in der Abt-Reginald zurück in Richtung Stift. Die Musik spielt Ol’ Man River und Stars and Stripes und Oh, What a Beautiful Morning, was eine ziemlich überzeugende Spaziergangsatmosphäre erzeugt. Die Leute entspannen sich jetzt, lachen, tratschen und gehen aus der Reihe und Oliver beginnt mit seinem Palmbuschen den Boden zu kehren. »Hör auf damit!«, sagt sie und er zuckt zusammen. Lara bleibt plötzlich stehen, streckt den Arm zur Seite und sucht ihre Hand. »Ich bin traurig«, sagt sie.
»Warum bist du traurig?«
»Weil Susi nicht da ist.«
»Susi? War sie deine Freundin?«
»Ja, und die von Longbottom auch.«
Der Hund heißt nach Neville Longbottom aus Harry Potter, diesem tolpatschigen Buben, der plötzlich tanzen kann wie nur was und am Ende ein Held wird. Lara taucht nie ohne Hund auf. Die meisten Blinden benutzen einen Langstock und haben keinen Hund. Bei Lara ist das anders. Longbottom war ein paar Monate nach ihrer Geburt schon da, er war klein und sie war noch kleiner. Er hat zwar inzwischen eine Blindenhundausbildung absolviert, aber in Wahrheit sind die beiden wie Geschwister. Wenn man Lara fragt, warum sie blind ist, sagt sie: »Zu viel des Guten.« Ihre Eltern sagen das genauso. Sie war eine Frühgeburt und musste wegen eines Lungenreifeproblems ziemlich lange beatmet werden. Der Sauerstoff hat ihre Augen kaputtgemacht. So etwas kommt vor, auch heute noch. Lara sagt, da sie keine Ahnung vom Sehen hat, geht es ihr auch nicht ab. Wenn jemand rund sagt oder groß oder spitz, weiß sie genau, was gemeint ist, und bei rot oder blond oder Himmel hat sie auch eine Vorstellung. Die Kinder gehen völlig normal mit ihr um, nur Kevin sagt manchmal: »Du bist ja behindert.« Jeder, der Kevins Eltern kennt, weiß, woher das kommt.
In Wahrheit hat sie es vor allem Lara und der Tatsache, dass sie selbst ein paar Kurse in Braille absolviert hat, zu verdanken, dass sie in Furth gelandet ist, und weniger ihrer erlogenen durchschnittlichen Religiosität. »Hat Longbottom Susi gemocht?«, fragt sie. »Ja«, sagt Lara, »und beschützt hat er sie auch.« »Beschützt?«, fragt sie, »vor wem?«
»Vor allen.«
Nein, sie kennt Susi nicht aus dem Kindergarten, Susi war gar nicht im Kindergarten. Dort, wohin sie gegangen ist, gibt es keine Kindergärten. Sie fragt Lara, ob sie genau weiß, wohin Susi gegangen ist, und Lara sagt, sie weiß nur, nach Indien, zu ihren echten Eltern. »Abholen hat sie immer gesagt, abholen. Dabei hat sie gelacht.«
Die Abt-Reginald bis zum Ende, nach rechts in die Weyrer Straße, den Bibliothekstrakt entlang bis zum Ende, nach links und über die frisch polierten Granitplatten des Vorplatzes zur Kirche. Beim Hinaufsteigen über die Treppe fällt ihr etwas auf. Sie braucht einige Zeit, bis sie merkt, was es ist. Polizei.
Orgel, erst Bach, zumindest glaubt sie das, dann Lobe den Herren . Allerhand Gelese, über Jubel und Hosanna und grüne Zweige in den Händen der Menschen, was, konkret genommen, natürlich ein Unsinn ist, denn die Weidenzweige mit den Kätzchen sind alles andere als grün. Sie gehen nach vorn bis zur dritten Reihe. Rechts sind ihre Plätze. Dienbacher steht im Mittelgang, hat eine Art gütigen Direktorsblick aufgesetzt und achtet darauf, dass die Dinge regelrecht laufen.
Der Abt wendet sich an die Kinder. Er spricht davon, dass die Geschichte vom Leiden Jesu sehr lang, aber auch sehr spannend ist, und dass darin normale Dinge vorkommen, ein Nachtmahl mit Freunden zum Beispiel oder ein Hahn, der kräht. Er sagt, dass die Geschichte aber auch grausam ist und von Verrat handelt, von Folter und von Mord, und dass sie letztlich sehr traurig endet, so traurig, dass jedes Lachen verstummt und jede Musik, dass auch die Orgel ihr Spiel einstellt und es im Volksglauben heißt, die Glocken fliegen aus den Kirchen davon, bis nach Rom, und erst in der Osternacht, zur Feier der Auferstehung, kommen sie wieder. Sie lauscht und denkt, er schwebt wirklich, der Herr Abt, alle hängen an seinen Lippen, so, wie man es sich zum Beispiel in einer guten Unterrichtsstunde wünscht. Sie stellt sich den krähenden Hahn vor, eine traurige Orgel und den Glockenflugverkehr über dem Petersplatz, wie sie alle landen, eine Glocke nach der anderen, und Reihen bilden und wie es eng wird und tönt, wenn sie aneinanderstoßen. »Warum lachst du?«, fragt
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