Das Matrazenhaus
sich mit diesen Dingen auch nicht auskennen. Julia trägt ein neues Kleid, weiß mit türkisfarbenen Streifen, und auch Stefans Walkjacke sieht neu aus. Einige andere Kinder aus ihrer Klasse stehen bei ihren Eltern im Block der Erwachsenen und werden nicht von der Hand gelassen: Kevin mit seinen unmöglichen grünen Haarsträhnen, Jacqueline und Magdalena, die Zwillinge, Therese, die wie ihre Mutter in einem großkarierten Ökokleid steckt, Philipp, dessen älterer Bruder ihn ständig in die Seite boxt, die dicke Vanessa, Britta Kern sowieso. Die Leute sind vorsichtig, denkt sie.
Der Himmel ist so blau, wie er nur im April und im Oktober sein kann. Haufenwolken fahren darüber hinweg und dahinter bleiben die Kondensstreifen der Flugzeuge ewig lang hängen. Plötzlich hat sie einen Weg im Lungau vor Augen, den sie vor Jahren einmal gegangen ist, von Alm zu Alm, im Frühling. Der Himmel ist genau gleich wie heute, auf den Lärchen wachsen hellgrün die Nadelbüschel und die lila Soldanellen beginnen eben zu blühen. Sie steht da, sieht die Murmeltiere über die Schneefelder rutschen wie Kinder und überlegt, ob es nicht doch für jeden Menschen gute Momente gibt.
Im Bogendurchgang zum ersten Hof taucht eine Abordnung des städtischen Blasorchesters auf, in lockerer Formation und ohne Marschtritt. Sie nehmen auf der Treppe vor dem Kirchenportal Aufstellung, direkt unter dem Rosettenfenster, und spielen O When the Saints . Michaela Klum steht in der ersten Reihe, bläst ihre Klarinette und ärgert sich vielleicht gerade, weil sie am Morgen vergessen hat, ihrer Tochter eine zu knallen.
Die Leute applaudieren, dann erscheint im Hauptportal das Vortragekreuz auf, dahinter der ganze Pulk von Ministranten und Patres, am Schluss Clemens, der Abt. Er schwebt, sagt Bauer, wenn er sich fortbewegt, hat er keinen Kontakt zum Boden. Er ist der ewigen Seligkeit ein paar Zentimeter näher als die anderen, daher ist er der Richtige für dieses Amt. Bauer selbst befindet sich zwei Reihen vor dem Abt. Aus seinem linken Ohr führt ein weißer Draht in den Halsausschnitt seines Messgewandes. Er geht bei jedem Schritt ein wenig in die Knie, so, als müsse er ständig sprungbereit sein. Sie kennt das inzwischen. Als die lange weiß-gelbe Fahne, die aus dem obersten Fenster des linken Turmes hängt, über ihren Köpfen im Wind knallt, erschrickt er heftig. Die Musik spielt Komm, holder Lenz . Das ist das Zeichen. Sie beginnt ihre Kinder zu ordnen.
Sie erinnert sich an ihr Einstellungsgespräch, wie Dienbacher hinter seinem Schreibtisch sitzt, mit den Fingerspitzen in einem fort auf die Platte klopft und betont, dass das zwar eine öffentliche Volksschule ist, es aber trotzdem eine äußerst enge Beziehung zum Stift gibt und man daher vom Lehrpersonal ein Mitwirken an den kirchlichen Festen erwartet, Weihnachten, Fronleichnam, Palmsonntag. Sie steht da, denkt, alle sehen, dass ich nichts kann und nichts aushalte und keine Phantasie habe und mich ständig nur mit mir und meinem Kleinscheiß beschäftige, und sagt, ja, selbstverständlich, kein Problem. Er fragt, ob sie eine Beziehung zur Religion hat, und sie lügt mit allem, was ihr zur Verfügung steht: Durchschnittlich, sagt sie, so etwa wie die meisten Menschen in diesem Land. Man geht ab und zu in die Kirche und zu Hause hängt ein Kreuz. Dienbacher nickt und schreibt irgendwas auf den Personalbogen. Sie verlässt das Büro, läuft die Treppe hinunter, schräg über den Hof in Richtung Parkplatz, steigt ins Auto, reißt die Handtasche auf, zieht das Stanley-Messer aus dem Maniküretui und schneidet sich in den Unterarm, einmal der Länge nach. Seither hat sie es nicht mehr getan.
Bei Schönwetter werde sich die Prozession in die Länge ziehen und eher zu einer Wanderung werden, hat Bauer am Vorabend gesagt, sie solle bequeme Schuhe anziehen und vielleicht ein Jausenbrot einpacken. Überhaupt sei der Sinn für mehrstündige Rituale etwas typisch Benediktinisches, man denke nur an die endlosen lateinischen Choralmessen. Mit denen habe sie keine Erfahrung, hat sie gesagt und gelacht. Sie haben Wein getrunken, über die schwarze Glocke als Motiv für die Ostereierbemalung geblödelt, und sie hat sich dabei ein wenig schlecht gefühlt. Im Bett haben sie noch Modern Times gehört, Workingman’s Blues No. II , Beyond the Horizon und am EndeSpirit on the Water in Dauerschleife. Etwas Österlicheres gibt es nicht, hat er gesagt.
Der Konvoi bewegt sich in einem Schwenk nach
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