Das Matrazenhaus
sie. In diesem Fall sei er für die Gelassenheit zuständig und sie für die Panik, antwortete er, das verhalte sich ähnlich wie mit Rationalität und Idylle. »Hast du ihn wenigstens angerufen?«, fragte sie. »Er fährt Auto«, sagte er, »überlege einmal.« Sie blieb auf dem Kiesweg stehen, blickte ihn an und begann zu weinen. Ich spiele ihr etwas vor, ich lasse sie mit ihrer Angst allein, ich erzeuge Schuldgefühle in ihr und ich fühle mich nicht schlecht dabei, dachte er, ich liebe meine Frau und zugleich muss ich sie bestrafen. Er ging auf das Haus zu. »Was machst du?«, rief sie. »Ich ziehe mich um und schneide die Kletterhortensie«, sagte er, »dabei kann ich nachdenken.« Er hörte, wie sie hinter ihm stehen blieb. Er wandte sich nicht um.
Als er dann mit Gartenschere und Pflanzdraht auf der Leiter stand, fiel ihm der Tag ein, an dem er mit Tobias Rad fahren gelernt hatte, seine Bockigkeit, seine Tendenz, nach links zu fallen, sobald er ihn losließ, und der Triumph in ihnen beiden, als er die Pedale rundherum trat und erst nach einer Weile realisierte, dass er nicht mehr gehalten wurde. Die Dezemberwochen in der dritten Volksschulklasse fielen ihm ein, als Tobias ohne Begründung den Schulbesuch verweigerte, die Geburtstagsfeier ein paar Monate danach, bei der er alle seine Freunde angestiftet hatte, sich gegenseitig mit belegten Brötchen und Tortenstücken zu bewerfen, und seine elende Verfassung, nachdem ihm vor einem Jahr beim Fußballspiel der Meniskus gerissen war. Er hatte ihm das Knie in Eis gepackt, eine Dose Cola und zwei Tabletten Diclofenac verordnet und die Operation erklärt, die ihn erwartete. Erst dann hatte er ihn ins Auto verfrachtet.
Er stieg von der Leiter, sammelte die Hortensienzweige in einem Henkelkorb und trug sie auf den Feuerplatz hinter der Scheune. Die Luft war feucht und roch nach Gras. Über dem See lag ein grünlich trüber Schimmer, wie eine Scheibe Mattglas. Bei einem bestimmten Sonneneinfallswinkel war das so. Die Kammwand hatte einen Saum aus kleinen weißgelben Wolken. Er fragte sich, was Tallahassee wohl für eine Stadt war und wo sie lag, vielleicht an einem See. Dann erinnerte er sich an den Tag, an dem der Bruder seines Vaters auf einem Ausflug in die oberösterreichischen Kalkalpen die Tür seines hellblauen Opel Kadett geöffnet und gesagt hatte: »Du fährst.« Er war sechzehn gewesen.
In der Küche war es still. Ab und zu schaltete sich der Kühlschrank ein. Er rief nach der Katze, aber sie kam nicht. Ostern ist in Sichtweite, dachte er, und ich merke nichts davon. Das Ostereiersuchen fiel ihm ein und die Art, in der Tobias den Schokoladehasen die Ohren abgebissen hatte. Er ist älter als ich damals war, dachte er, und er kann offenbar Auto fahren.
Schwarz mit ein paar Molekülen Zucker, so hatte sie es gern. Horn stellte die beiden Tassen auf das Tablett und ging in Richtung Stall. Sie spielte lange tiefe Töne, erst absteigend, dann wieder rauf. »Klingt wie ein Didgeridoo«, sagte er und stellte ihr den Kaffee hin. Sie senkte den Bogen und schwieg.
Er habe nachgedacht, sagte er, und es sei ihm tatsächlich eingefallen, wann er Tobias ein zweites Mal geschlagen habe. Es sei an seinem eigenen Geburtstag passiert, sie könne sich sicherlich erinnern. Er habe einen Tisch in der Piccola Cucina reserviert gehabt, extra wegen der Buben und der Pizza Diavolo, die es dort gebe. Tobias sei im Wohnzimmer vor dem Fernseher gesessen und habe gesagt, es komme jetzt Mr. Bean und das ganze Geburtstagsessen könne ihm sowieso gestohlen bleiben. Daraufhin habe er noch einmal gefragt, ob das heiße, dass er lieber Mr. Bean schaue, als den Geburtstag seines Vaters zu feiern, und Tobias habe gesagt, ja, genau.
Sie kippte ihre Tasse, stellte sie auf den Boden und legte ein Notenblatt auf. Horn setzte sich auf einen der Stühle, die an der Wand standen, und hörte zu. Manchmal war es beruhigend, zu spüren, dass man sich nicht dauerhaft wie ein Arschloch benehmen musste.
Der Anruf kam etwa eine halbe Stunden später. Horn kramte das Handy aus seiner Hosentasche. Irene, die mehrmals hintereinander ein kleines wildes Stück, das Horn nicht kannte, gespielt hatte, brach mitten im Ton ab. Es war Michael. Tobias sei vor kurzem bei ihm in der Firma aufgetaucht, mit dem Volvo und mit der Katze. Da er momentan nicht nach Hause wolle, werde er ihn in seine Wohnung bringen. »Mit der Katze?!«, fragte Horn. Ja, mit der Katze, aber das sei eine längere Geschichte. Er sei
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