Das Matrazenhaus
so arg, denn den beiden habe man keinen Knochen gebrochen. Der Bub nickte. Ob er jemals mit ihnen darüber gesprochen habe. Nein, noch nicht, sagte der Bub. »Was heißt noch nicht ?«, fragte Horn.
»Vielleicht werde ich.«
Horn wies auf den dicken Inspektor und sich. »Und mit uns?«
Der Bub schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil mir sonst das Gleiche passiert.«
»Das Gleiche? Welches Gleiche?«
»Was ich gesehen habe.«
»Was hast du gesehen?«
Das dürfe er nicht sagen.
»Weil es dir sonst auch passiert?«
»Genau.«
Und wenn er mit Felix oder Britta spreche, passiere ihm das nicht?
»Ich glaube, nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil die dazugehören.«
»Wo gehören sie dazu?«
Der Bub schluckte und sagte nichts. Er ist nicht so cool wie Felix Szigeti und nicht so verstockt wie Britta Kern, dachte Horn, bei ihm ist die Angst am spürbarsten. Horn stand auf und holte einen Zeichenblock und Buntstifte aus dem Schrank mit dem Therapiematerial. So ein Gespräch sei wie eine Turnstunde, erklärte er, zwischendurch brauche man ein wenig Auflockerung. Der Inspektor hob die Hand. »Haben Sie für mich auch einen Stift, mein Kuli gibt den Geist auf«, sagte er. Horn warf ihm einen Faserschreiber zu.
»Zeichnest du gerne?«, fragte er. »Geht so«, sagte der Bub.
»Einen Baum vielleicht?«
»Vielleicht ein Aquarium?« Der Bub blickte Horn prüfend an. »Ist das ein Trick?«, fragte er. Nein, das sei kein Trick und ein Aquarium sei wunderbar. Horn setzte sich wieder an den Tisch und schob dem Buben Papier und Stifte hin. Der Bub klappte die Buntstiftschachtel auf und drehte den Zeichenblock einmal rundherum. Dann saß er starr da. »Brauchst du noch etwas?«, fragte Horn. Der Bub schüttelte den Kopf. Es müsse kein Aquarium sein, sagte Horn, er könne auch ein Haus zeichnen, einen Dinosaurier oder einen Tiger. »Oder vielleicht doch einen Baum«, sagte der Inspektor. Der Bub begann die Buntstifte nebeneinander aufzulegen. »Das ist es nicht«, sagte er.
»Sondern?«
Es sei wegen seiner OI eins, wegen der Kollagen-Tripelhelix. Jetzt verstehe er wohl etwas nicht, sagte Horn. Der Bub blickte hinunter auf seinen Verband. »Ich muss aus der Schlaufe«, sagte er nach einer Weile.
In manchen Augenblicken wird das Leben zum Standbild, dachte Horn, meistens hat es zu tun mit Erkenntnis. Frühlingslicht fiel in den Raum, in die rechte untere Ecke des Fensters ragten blitzend drei der vier Stahlschlote des Holzwerkes, an der Wand saß ein zwei Meter großer Kriminalinspektor und zeichnete Kringel aufs Papier und unmittelbar vor ihm versuchte ihm ein Achtjähriger mit blauen Bindehäuten und gut ausgebildetem Gewissen begreiflich zu machen, dass er Linkshänder war. »Rechts geht gar nichts?«, fragte er. »Mit der Gabel essen geht«, sagte der Bub.
»Schreiben?«
Da werde alles verzittert und total schief, sagte der Bub, deswegen habe er in der Schule derzeit auch eine Schreibbefreiung, aber, ehrlich gesagt, finde er das irgendwie blöd. Horn beugte sich vor und öffnete den Klettverschluss der Unterarmschlaufe. »Ich sag’s niemandem und die Polizei hat’s nicht gesehen«, sagte er. Der Bub schaute sich um. Der dicke Inspektor wandte demonstrativ den Blick gegen die Decke und sagte, dass es sich aus Sicht der Polizei beim Schlüpfen aus einer Schulterverbandsschlaufe um kein besonders schweres Verbrechen handle.
Der Bub zeichnete ein Aquarium, das beinahe das gesamte Blatt ausfüllte, Fahnenflosser und Putzerfische, Schnecken, Krebse, reichlich Pflanzen und unten auf dem Grund einen grimmig aussehenden Wels. Mit der Größe der Umwälzpumpe und mit dem Gelingen der Perspektive war er sichtlich unzufrieden. Horn lobte das Bild und sagte, er finde es bemerkenswert, dass ein Bub in seinem Alter überhaupt perspektivisch zeichne.
»Womit hat er dich geschlagen?«, fragte er unvermittelt. »Mit einem Stock«, sagte der Bub. »Das darfst du verraten?«, fragte Horn. Der Bub zuckte mit den Schultern.
»Wie hat der Stock ausgesehen? Normal? Lang, kurz, dick, dünn?« Der Bub überlegte einige Sekunden, dann schüttelte er den Kopf. »Nicht normal«, sagte er. »Was heißt nicht normal ?«, fragte Horn. Der Bub langte nach einem leeren Blatt und skizzierte in Windeseile einen Stock, eine Doppelkontur in der Diagonale des Blattes, breit wie ein Daumen, oben und unten ordnungsgemäß abgeschlossen. Danach zeichnete er in regelmäßigen Abständen dunkle Verdickungen ein,
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