Das Matrazenhaus
sie lässt mich in Ruhe. Runter zur Bahn, unter dem Schranken durch, aus einem Fiat ruft jemand Das ist gefährlich , die Stiftsallee nach rechts, rüber auf die andere Seite, den Besucherparkplatz entlang bis zum Garteneingang, zwischen den beschnittenen Thujen durch, vorbei am Brunnen mit den pseudogriechischen Figuren, hinter das Gewächshaus. Die Tür zum Wirtschaftskorridor, bei der man den feststehenden Flügel nur ein wenig nach innen drücken muss, der Gang, durch den man besser in Socken geht, weil er so hallt, die schmale Treppe neben dem Papierlager, hinauf in den ersten Stock.
Dämmerung liegt in der Klasse. Wenn ich mich auf meinem Platz zur Seite drehe und auf die Europakarte blicke, die an der Wand hängt, kann ich einige Dinge gerade noch lesen: Gibraltar, Ceuta, Tanger, Rabat, alles am unteren Rand. An der Tafel stehen die Gleichungen, die Altmann in der letzten Mathematikstunde vor unserer Sprachwoche hingeschrieben hat. Keiner hat sie weggelöscht. Das fühlt sich komisch an.
Ich nehme die Doppel-DVD aus meinem Rucksack. Die eine Hälfte ist rot, die andere gelb. Unter der roten DVD steckt noch eine. Ich fahre den Computer hoch und lege die DVD ein. Ich weiß sofort, wo wir uns befinden. Breite blaue und schmale gelbe Streifen. Hundertsechzig mal zweihundert. Jemand atmet.
Siebzehn
Die Schier, die Stöcke, den Rucksack, die Schuhe – sie trägt die Sachen ins Vorzimmer und stellt sie neben die Eingangstür. Parallel dazu hakt sie ihre innere Checkliste ab: Sonnencreme, Apfelsaft, Handschuhe, Mütze, Brille, Lawinenpieps. Sie geht ins Bad, steht kurz vor dem Spiegel und schneidet eine Grimasse. Danach öffnet sie den Schrank, langt hinter einen Handtuchstapel, holt eine Bündelpackung Rasierklingen hervor, fünfzig Stück, und steckt sie ein. Dann geht sie.
Er wartet an der Severinstraße, wenige Meter neben dem Haupteingang des Stiftes. Er trägt eine dunkelgraue Tourenhose und eine Fleecejacke, die auf und auf völlig verfilzt ist. »Zu heiß gewaschen?«, fragt sie. Er nickt. Irma, die Wirtschaftshelferin, weigere sich, ihren grauen Star operieren zu lassen, daher passierten solche Dinge. »Eingecremt?«, fragt sie. Er lacht. »Die personifizierte Ordnung«, sagt er. Hast du eine Ahnung, denkt sie.
Sie fahren das Nordufer des Sees entlang, an Waiern vorbei, etwas später links ab nach Mooshaim, durch den Ort und aufwärts ins Lassacher Tal, das nach Südwesten in Richtung Niedere Tauern zieht. Er hat sichtlich sein Vergnügen daran, den Ellbogen beim offenen Fenster rauszustrecken. »Wie früher«, sagt er. Sie fragt, was er mit früher meine, und er sagt, die Zeit, in der er noch nichts dabei gefunden habe, einmal am linken Rand zu fahren und einmal am rechten oder gleich in Schlangenlinien. »Und jetzt?«, fragt sie. Jetzt fahre er rechts, antwortet er – zumindest sage er das dem Amtsarzt, wenn der über seine Verkehrstauglichkeit zu befinden habe.
Der Parkplatz ist gut gefüllt. Wiener, Grazer, mehrere Autos mit bayrischem Kennzeichen. »Osterferien«, sagt er, »wahrscheinlich lauter Lehrer.« Sie steigt in ihre Schitourenschuhe. »Bitte keine Lehrer«, sagt sie, versucht zu lächeln und merkt zugleich, wie sie zittert. Ab und zu passiert ihr das. »Du magst Ferien nicht«, sagt er. »Du auch nicht«, sagt sie.
Die Route führt durch lockeren Lärchenwald, vorbei an einer Handvoll isoliert aufragender Felsblöcke, bis zu einer Steilstufe, die in kurzen Serpentinen überwunden wird. Ab diesem Punkt weitet sich das Tal trogförmig und sammelt wie ein Parabolspiegel die Wärme. Der Harschdeckel auf dem Schnee trägt noch gut, stellenweise beginnt er aufzufirnen. Er geht die meiste Zeit vor ihr her, manchmal zieht er das Tempo plötzlich an und manchmal lässt er sich zurückfallen, geht eine Zeitlang neben ihr und erzählt ihr eine Geschichte. Sie mag die Leichtigkeit, in der er sich bewegt und nie außer Atem gerät, das Geräusch, wenn seine Fersen auf den Schi schlagen, und die Selbstverständlichkeit, in der er in einem Satz von der Poesie des Mönchstums spricht, von der Angst vor Zerstückelung und vom Geruch, den sie zwischen Ohrläppchen und Schlüsselbeingrube verströmt, wenn sie sich anstrengt.
Der Himmel ist locker bewölkt. Das Licht flutet in Wellen über die Schneefläche hinweg. Sie horcht auf das Schleifen der Steigfelle und versucht in einem konstanten Rhythmus zu bleiben. Allmählich beginnt sie sich zu entspannen. Er singt vor sich hin. Ain’t talkin’,
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