Das Matrazenhaus
habe gesagt, sie werde ihn vorbeischicken, vielleicht verstehe er es dann, woraufhin es der Psychiater offenbar mit der Angst zu tun bekommen und gemeint habe, das sei nicht notwendig, er könne ihn sich auch so vorstellen. Sie bezweifle das, habe sie gesagt, und der Psychiater habe beleidigt geantwortet: Sie vertrauen mir gar nicht.
»Schnalzen«, sagt sie, »es gibt verschiedene Worte dafür. Auf das, was er mit mir getan hat, trifft am ehesten schnalzen zu: die scharf durchgezogene flache Hand oder der Lederriemen, die beim Auftreffen auf die nackte Haut ein klatschendes Geräusch erzeugen.« »Er hat dich geschnalzt?«, fragt er. »Ich nenne es so«, sagt sie. »Wie schlimm?«, fragt er. Sie sagt nichts. Wenn sie die Augen zusammenkneift, wird das Glitzern der Schneekristalle bunt. Die Welt wird durch die kleinen, kindischen Dinge erträglich, denkt sie, durch das Zusammenkneifen der Augen im Schnee, durch Mönche, die nicht stillsitzen können, und durch bestimmte Sätze, zum Beispiel: Du magst Ferien nicht , oder: Der Mond wird durch die Sonne zum Leuchten gebracht. Er zieht die Steigfelle von den Schiern, bringt die Bindungen in Abfahrtsposition und überprüft die Schraubfixierungen der Teleskopstöcke. »Warum musst du ständig etwas tun?«, fragt sie. »Weil die Glocken davongeflogen sind«, sagt er, »da ist es so unerträglich still.« Sie tippt sich an die Stirn. Zugleich beunruhigt sie etwas. Sie weiß nicht, was es ist. Manchmal übersieht man Dinge, denkt sie.
Zehn Schwünge kurz, vier lang – der Firn im ersten Hang nach dem Gratabbruch ist knapp knöcheltief. Er fährt vor ihr her, zieht den Schwung extrem auf der Kante und singt laut O Haupt voll Blut und Wunden . Als ihre Oberschenkel zu brennen beginnen, schwingt sie ab und brüllt ihm nach, er habe ja so einen Knall. Er scheint nichts zu hören und fährt weiter. Sie streift den Rucksack von den Schultern, greift in die untere der beiden Außentaschen, nimmt das Päckchen mit den Rasierklingen raus und wirft es in hohem Bogen von sich, obwohl sie weiß, dass es nichts nützen wird.
An der Stelle, an der er wartet, beginnt der Harsch zu brechen. »Pass auf deine Knochen auf«, sagt er. »Mich irritiert etwas«, sagt sie und keucht, »es hat mit Glocken zu tun.« Er lacht: »Wundert’s dich?«
Er fährt. Sie hängt im Beifahrersitz, zittert, und ihre Lungen brennen. Dreihundert Höhenmeter Springen im Bruchharsch, mehrere Stürze, am Schluss ein blankgescheuerter Güterweg. Er wirkt wie nach einem Spaziergang. »Ich laufe«, sagt er, als müsse er sich entschuldigen, »ständig, jeden Tag.« Sie nickt und sagt nichts.
Sie nehmen die Südstrecke, die Lawinengalerie zwischen Mooshaim und Sankt Christoph, den Kammwandtunnel. In den Kehren, die zum Westportal hinaufführen, schläft sie ein. Sie träumt von ihrer Mutter, die in doppelter Ausfertigung vor einem riesigen Kleiderschrank steht, Mäntel anprobiert und mit sich selbst spricht. Als etwas Dunkles aus dem Schrank tritt, schrickt sie hoch und meint, ihr Handy habe geläutet. Er sagt, es sei vielleicht das Quietschen der Bremsen gewesen. »Wo sind wir?«, fragt sie. »Ich habe eine Idee«, sagt er.
»Wollten wir nicht zu mir fahren?«
»Es dauert nicht lange.«
Er hilft ihr aus dem Auto. »Du kannst alles hierlassen«, sagt er. Er geht vor ihr her, in großen, elastischen Schritten. Die Schultern tun ihr weh, die Waden und das Kreuz. Das angelehnte Gittertor, daneben die Platane, der Schleichweg, nur in umgekehrter Richtung. Die Treppe hoch, die Stahltür mit dem Mattglas. Die großen Blumentöpfe auf dem Gang des Klausurtraktes, Weihnachtskakteen, Azaleen, ein Zitronenbäumchen. Siebenundzwanzig Schritte, sie weiß das inzwischen. Das Fenster steht weit offen. Eine seiner fixen Ideen ist es, ein Vogelpaar dazu zu bringen, in seinem Zimmer ein Nest zu bauen; am liebsten Rauchschwalben, sagt er.
Er führt sie mitten in den Raum. »Bleib stehen«, sagt er. Er geht in die Knie und öffnet Gürtel und Zipp ihrer Tourenhose. Sie merkt, wie die Angst in ihr hochquillt. »Was willst du?«, fragt sie und versucht ihn wegzuschieben. »Nicht das, was du fürchtest«, sagt er, »ich schwöre es.« Er zieht ihr die Hose runter bis zu den Knien, dann auch die Strumpfhose. »Mir wird kalt«, sagt sie und legt die Hände flach auf ihre nackten Oberschenkel. »Gleich«, sagt er und schiebt einen der beiden Stühle, die im Zimmer stehen, hinten an sie ran, »setz dich.« Er zieht ihr
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