Das Matrazenhaus
just walkin’ , wieder und wieder. Es stammt ebenfalls aus Gottes vorletztem Album; die Schlussnummer.
Die Spur wendet sich nach rechts, einem flachen Sattel zu. Ein Stück oberhalb sieht sie ein Pärchen in gelben Softshelljacken. Sie erinnert sich an die Zeit, in der sie die gleichen Sachen tragen musste wie Nora, ihre jüngere Schwester. Ihre Mutter hatte das so bestimmt. »Ich möchte etwas trinken«, sagt sie plötzlich und bleibt stehen.
Sie blicken über die Vorberge in Richtung See. Er spricht davon, wie sehr er in den Ferien die Kinder vermisst, ihre Geräusche, ihre Sätze und ihre raschen Bewegungen, wie er nicht anders kann, als sie anzusprechen, wenn er sie auf der Straße trifft, und wie er spätestens Anfang August beginnt auseinanderzubrechen. Er erzählt von den Routen, auf denen er durch die Nächte läuft, manchmal unter Sternen, manchmal durch Regen und Sturm, und davon, dass er es am liebsten hat, wenn die Blitze in den See fahren und der Donner von den Graten der Kammwand fällt. Das halte ihn noch eher zusammen als Wochen grenzenlosen Schönwetters. Zu Schulbeginn sei er dann in der Regel vollgestopft mit Neuroleptika und trotzdem unterwegs wie ein Asteroidenschwarm, rasend und in tausend Fragmente zerschlagen. Er holt einen Schokoriegel aus dem Rucksack, teilt ihn und reicht ihr die Hälfte. »Schokolade hilft auch«, sagt sie. »Nicht gegen alles«, sagt er. »Doch«, sagt sie, obwohl sie weiß, dass er recht hat.
Als die gelben Jacken verschwunden sind, gehen sie weiter. Sie denkt an Natalie mit den altmodischen Zöpfen, die mehrmals gesagt hat, dass Eier so teuer sind, und an ihre Mutter, die Bundfaltenhosen aus Wollstoff trägt und Natalies kleinen Bruder in einem Kinderwagen durch die Gegend fährt, der auf Speichenrädern läuft und sicher vierzig Jahre alt ist. Sie denkt an Britta und Günseli, die ebenfalls total ernste Mädchen sind, und an die dicke Vanessa, die zumindest ab und zu lacht. Dann denkt sie an Roswitha, ihre Nichte, die damals ihre Schleppe getragen und nach der Trauung auf dem Vorplatz der Kirche Pfingstrosenblätter gestreut hat. Sie war fünf, dunkelblond, in einem weißen Kleid, und er hat sie mit einem Lächeln hochgehoben und auf seinen Arm gesetzt, für den Fotografen. Sie hat dieses Lächeln in Erinnerung, seine Augenbrauen, seine breiten Finger und die Frage, die er ihr hintennach gestellt hat: »Wem gehört dieses Mädchen?«
»Bei manchen Menschen kriegt man Angst, wenn sie nachdenken«, sagt er plötzlich. Sie erschrickt. Er behauptet, es gibt Leute, die eine Handbreit über dem Boden dahinschweben, denkt sie, lautlos, wie auf einem Luftkissen, und in Wahrheit gehört er selbst dazu. »Du kommst daher wie ein Geist«, sagt sie. Er lacht und zieht sich das Hemd über den Kopf. »Spirit on the water«, singt er. »Gib das Hemd wieder runter«, sagt sie.
»Warum?«
»Ich möchte dein Gesicht sehen.«
»Wovor fürchtest du dich?«, fragt er. Sie schüttelt den Kopf, sagt nichts und erhöht ihr Tempo. »Das hältst du nicht durch«, sagt er. »Und ob«, sagt sie. Sie weiß, dass sie schnell sein kann, wenn es drauf ankommt. Erst nur die Frequenz erhöhen, dann allmählich die Schrittlänge, nur nicht umgekehrt. Er folgt ihr mit Leichtigkeit. In der dritten Spitzkehre rutscht sie ein Stück zurück. »Wovor läufst du davon?«, fragt er. »Nicht vor dir«, keucht sie.
»Sondern?«
»Ich kann das nicht erzählen.« Ab einem gewissen Punkt verschwimme ihr alles, Fremdes und Eigenes, sie könne zwischen sich, den Kindern und den Menschen ringsum nicht mehr unterscheiden, und plötzlich sei die ganze Welt hinter ihr her, eine Armee aus großen dunklen Männern.
»Er?«
Sie nickt. Sie sei viel zu jung gewesen, sagt sie, viel zu vertrauensselig, selbst noch ein Kind, und er habe dieses Lächeln gehabt und seine großen ruhigen Hände.
Sie mag den Moment, in dem der Blick plötzlich über die Grathöhe reicht und nach Süden fällt, in die obersteirischen Kalkberge und in die Tauern. Der Wind trifft sie mit Wucht. Auch das mag sie, die Notwendigkeit, die Schultern nach vorn zu stemmen, das Brennen am Kinn und die Kälte, die sich die Nase hochschiebt wie zwei Eiszapfen. Sie steigen direkt den schmalen Rücken empor, an einer Felsschulter vorbei, umgehen südseitig eine Wechtenreihe, dann sind sie oben.
Manche Menschen sind so , habe der Psychiater zu ihr gesagt, und auf ihre Antwort, dass sie das auch wisse: Warum haben Sie ihn dann geheiratet? Sie
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