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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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können noch ihr Mitleid mit Mutter und Tochter noch die Tatsache, dass diese Sozialarbeiterin eine ausgesprochen vernünftige Frau zu sein scheine. Außerdem habe er ein Scheißhemd getragen. Das aber gebügelt gewesen sei, sagte Kovacs. Seines Erachtens sei der Mann einer dieser Neurotiker, deren Aktionen in erster Linie die Selbstbestrafung zum unbewussten Ziel hätten, sagte Kovacs. Sabine Wieck blickte ihn erstaunt an. Im Lauf der Zeit lerne auch er seine Psycho-Lektionen, sagte er.
    »Apropos«, sagte sie, »wie groß ist eigentlich dieser Relaxo?« Im Beiheft zu seiner Plüschpuppe sei von zwei Metern und tausend Kilo die Rede, sagte Kovacs. Das habe ihn fasziniert, mehr noch die Bezeichnungen der Attacken, die er beherrsche: Kopfstoß, Bodyslam und Amnesie.
    »Und damit hast du auch die Kleine zum Reden gebracht?«, fragte sie.
    »Womit?«
    »Mit Bodyslam und Amnesie.«
    »Nicht direkt.« Es sei viel einfacher gegangen.
    »Nämlich?«
    »Mit Geld.«
    Sie fuhr herum. »Das ist aber nicht dein Ernst?!«
    »Doch«, sagte Kovacs, »fünf Euro für Pokémon-Karten und sie hat geredet wie ein Wasserfall.« Sie selbst habe doch gesagt, Geld gehe immer. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Du kannst so arg sein«, sagte sie.
    Der Kammwandtunnel war diesmal unbehindert befahrbar. Bei Kilometer zwei Komma zwei flackerte über vielleicht fünfzig Meter hinweg die Deckenbeleuchtung. Die Reinigungsfahrzeuge waren verschwunden. »Es ist alles genauso dreckig wie vorher«, sagte Kovacs.
    Die Kleine hatte anfangs noch verschreckt gewirkt und sich ständig umgeblickt. Als er ihr die Digitalkamera und das Diktiergerät erklärt hatte, war sie etwas ruhiger geworden, und sobald er begonnen hatte, über seine eigene Tochter zu sprechen, hatte sie sich zusehends entspannt. Er hatte von Charlottes Spielgewohnheiten erzählt, von ihren Puppenhäusern, von Lego und den alten Kleidern ihrer Mutter, die sie tagelang getragen hatte. Julia hatte zugehört und am Nagelbett ihres Daumens gezupft. Besonders die Sache mit den alten Kleidern hatte sie interessiert und sie hatte wissen wollen, ob ein hellblaues mit weißen Streifen darunter gewesen sei. Er hatte sich nicht erinnern können. Zwischendurch hatte er sie gefragt, ob anderswo an ihrem Körper ähnliche blaue Flecken seien wie im Gesicht und, womit er sie geschlagen habe. Sie hatte ihren Pullover und ihr Unterhemd hochgezogen und gesagt: »Nur mit der Hand.« Daraufhin hatte er sie direkt gefragt, ob das dem Vater schon öfter passiert sei, und sie hatte gesagt: »Nein, noch nie.« Er hatte versucht, auf seinem Notizblock einen Relaxo zu zeichnen, was ziemlich verunglückt war, und dann hatte er ihr die fünf Euro gegeben. Auf die Frage, warum der Vater sie geschlagen habe, hatte sie gesagt: »Weil ich frech war.« »Was hast du gesagt?«, hatte er gefragt und sie hatte geantwortet: »Du kannst ja nicht einmal Geld verdienen.«
    Sabine Wieck saß neben ihm, weiterhin zum Fenster gewandt, und sagte nichts. Er spürte kurz den Impuls, hinüberzugreifen und sie zu berühren, tat es dann aber nicht. »Muss ich mich schlecht fühlen?«, fragte er, als sie nach dem Stift in die Seestraße einbogen. »So etwas hast du mich noch nie gefragt«, gab sie zur Antwort.
     
    Kovacs sah die untersetzte Frau mit der Kurzhaarfrisur, noch bevor er aus dem Wagen stieg. Sie lehnte an der Wand neben dem Eingang zum Kommissariat, hielt ihr Gesicht in die Sonne und kam ihm bekannt vor. Blumenbilder fielen ihm ein, ein eigenartiger Springbrunnen, ein Schuhlöffel. Dann hatte er es: ein nussbraunes Klavier, auf dem ein Bild von Thelonious Monk stand. Er ging auf sie zu. »Wollen Sie zu mir, Frau Weghaupt?« Sie nickte und begann in ihrer Handtasche zu kramen.
    Sabine Wieck verabschiedete sich und ging ins Haus. Im Vorbeigehen sagte sie etwas zu ihm. Es blieb am Rand seines Bewusstseins hängen.
    Gerlinde Weghaupt zog ein Blatt Papier hervor, faltete es auseinander und reichte es ihm. »Ich habe es ausgedruckt«, sagte sie. »Ein Song-Text?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er dürfe jetzt nicht schlecht von ihr denken, sagte sie, aber wenn einem ein Kind sterbe, tue man sonderbare Dinge: Man lege sich auf sein Bett, man rieche an seinen Kleidern und man bewahre die Kontaktlinsen auf, die täglich in seinen Augen geschwommen seien. Daher habe sie sowohl die Anrufliste des Handys als auch den Computer ihres Sohnes durchgeschaut, vor allem seine E-Mails. Sie habe beschlossen, alle für sich

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