Das Maya-Ritual
berührte leicht meine Hand. »Ich muss mich auf den Weg machen, Senorita, die Polizei ist eingetroffen, um mich zurück nach Mérida zu bringen.« Er schüttelte mir fest die Hand. »Ich hoffe, Sie bleiben gesund.«
»Auf Wiedersehen, Doktor«, sagte ich und blickte zur Pyramide zurück, um ja nichts zu verpassen. Aber der Schatten hatte sich bereits weiter die Rampe hinaufbewegt, die Dreiecke aus Licht wurden kleiner, die Illusion verblasste.
Als ich mich wieder umsah, ging Dr. de Valdivia bereits fort.
Die Menge begann sich zu zerstreuen. Auf dem Rückweg zum Hotel blickte ich noch einmal in Dr. de Valdivias Richtung. Er unterhielt sich mit einem jungen Mann, der neben ihm auf den Streifenwagen zusteuerte, der am Haupteingang zum Gelände parkte. Die Körpersprache des jungen Mannes kam mir bekannt vor, weckte meine Aufmerksamkeit und ließ mich genauer hinsehen. Es war Alfredo.
10
Denken Sie an das tiefe, leuchtende Königsblau, das man in Buntglasfenstern sieht. Nun stellen Sie sich vor, Sie würden eine Scherbe dieses Glases untersuchen und zu Ihrer Überraschung feststellen, dass es mit funkelnden Lichtpunkten gesprenkelt ist, wie Sterne am Abendhimmel, und sie glänzen wie blaue Diamanten.
Es handelt sich aber nicht um ein Stück Glas, sondern um einen winzigen Fisch, und er schwebt einen halben Meter vor Ihrer Tauchmaske im Meer. Er hält sich versteckt (nach seinem Dafürhalten) in einer verästelten grünen Koralle von der Form eines Geweihs, an deren Spitzen jeweils fluoreszierende Lichtpunkte strahlen. Und auf dem Riff unter dem blauen Fisch liegt ein konisch geformtes Schneckenhaus mit einer Oberfläche wie ein Mosaik aus cremefarbenen und leuchtend roten Porzellanfliesen.
Wir befinden uns jedoch in keiner Märchenwelt. Der kleine Fisch wartet darauf, dass ein größerer Fisch vorbeikommt, und er wird dem anderen Geschöpf gefällig sein, indem er dessen Parasiten zum Mittagessen verspeist. Und wenn ich an die Feuerkoralle streife, werde ich einen schmerzhaften Ausschlag von den haarigen Nesselkapseln bekommen, die aus ihren Ästen ragen. Noch Schlimmeres jedoch erwartet mich, wenn ich die Kegelschnecke aufhebe. Sie kann eine Harpune verschießen, die meinen Tauchanzug durchdringt, mit einem der wirksamsten aller bekannten Gifte überhaupt. Der Schmerz wäre unvorstellbar, und ich würde unausweichlich sterben.
Es heißt, so gut wie alles, was auf einem Korallenriff wächst, sei giftig, darunter einige seiner schönsten Bewohner - Anemonen, Seesterne, Seeigel, Schwämme, Meeresschnecken, Quallen und die Korallen selbst.
Schönheit und Scheußlichkeit. Die Natur. Die alten Maya. Die ewige Beschaffenheit des Menschen.
Dieser letzten Aussage würde mein Vater nicht zustimmen. Wir könnten unsere fehlerhafte Natur überwinden. Oder wenigstens danach streben. Und vermutlich würde ich diesem Gedanken selbst beipflichten, wenngleich ich in letzter Zeit nicht mehr viel darüber nachgedacht hatte.
Die religiösen Überzeugungen meines Vaters gehen mit einer fundamentalistisch christlichen Auffassung von Wissenschaft einher, insbesondere, was die Evolution betrifft. Er ist Christ in ethischer Hinsicht und Kreationist in wissenschaftlicher. Man kann das eine ohne das andere nicht sein. Als ich beschloss, Biologin zu werden, hatten wir deshalb ein Problem. Das war ein Zweig der Wissenschaft, der seiner Ansicht nach von Anhängern der Darwinschen Evolutionslehre dominiert wird, was kaum überrascht, da diese Lehre die einigende Theorie der Biologie darstellt.
Das Thema war auch mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach dem berühmten »Affenprozess« im amerikanischen Bildungswesen noch aktuell: Als der Staat Tennessee 1925 verlangte, John Scopes strafrechtlich verfolgen zu dürfen, weil er die Theorie von der Entwicklung der Arten im Naturkundeunterricht lehrte, trat der alte Kampf Wissenschaft gegen Religion in neuen Kleidern zu Tage - Genesis gegen Evolution. In der denkwürdigsten Szene des Prozesses wurde der Ankläger mit der Frage in die Mangel genommen, ob er jede Geschichte in der Bibel für die buchstäbliche Wahrheit halte. Mein Vater hätte zweifellos mit Ja geantwortet.
Als ich daher beschloss, Biologie nicht nach einem biblisch abgesegneten kreationistischen Lehrplan zu studieren, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Der Vater, den ich als Kind angebetet hatte, begann einen totalen Krieg, um zu verhindern, dass ich tat, was ich für mein Leben gern tun wollte. Also ging ich bis zum
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