Das Maya-Ritual
die ich gerade an den Wänden des Tempels eingehend betrachtet hatte; beide Kiefer wiesen zwei vorstehende Eckzähne auf.
»Das ist ein Jaguarkopf, nicht wahr?«, sagte ich und zeigte auf seinen Stock, als ich an seine Seite getreten war.
»Ja, Senorita. Und wissen Sie, wieso? Weil die Maya den Jaguar für einen Mittler zwischen den Welten der Lebenden und der Toten ansahen. Ein ideales Symbol für einen Pathologen, finden Sie nicht?«
»Höchst angemessen.« Wir schienen in die Richtung eines der Steinkreise zu gehen, die zu beiden Seiten des Ballspielplatzes hoch in die Wände eingelassen waren.
»Was hat Sie eigentlich hierher zurückgeführt, Doktor?«
»Zwei Gründe. Zum einen wollte ich mich vergewissern, dass Sie und Senor Arnold sich von Ihrem Tauchgang gut erholt haben.«
Ich nahm an, er meinte die Wirkung, die der Fund des Kopfes auf uns gehabt haben könnte.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«
»Ich bat Captain Sanchez, Senor Arnold anzurufen, und er erzählte uns, Sie seien noch geblieben.« Er musterte mich mit einem professionellen Blick von Kopf bis Fuß und sah aus, als würde er gleich mein Handgelenk ergreifen, um mir den Puls zu messen.
»Mich beunruhigt viel mehr, was mit ihm passiert ist«, sagte ich und trat einen Schritt zurück.
Der Doktor sah besorgt aus. »Mit Senor Arnold, meinen Sie?«
Dass Ken in einem Wasserschwall herumgewirbelt wurde, der aus einer tieferen Ebene in den Zenote eindrang, war schwerlich ein Grund zur Besorgnis. Aber als erfahrene Taucher waren wir gegenüber unerwarteten Vorkommnissen wahrscheinlich ein bisschen abgestumpft.
»Nein. Ken hat sich schon in viel schlimmeren Situationen befunden. Ich meine Goldberg. Sein Gesicht…«
»Es kann seltsame Auswirkungen auf die Haut haben, wenn sie in Wasser getaucht wird«, sagte Dr. de Valdivia in geschäftsmäßigem Ton. »Es gab keine Eingriffe von Menschenhand an den sterblichen Resten des Mannes, keine Verstümmelungen, falls Sie daran dachten.«
»Hm… Ich bin Meeresbiologin, Dr. de Valdivia. Und ich habe schon früher Leichen gesehen, die aus dem Wasser geborgen wurden. Die sahen völlig anders aus.«
»Ach, Salzwasser und Süßwasser. Das sind zwei ganz verschiedene Welten. Der Tod durch Ertrinken geschieht auf unterschiedliche Weise, verstehen Sie. Wenn Salzwasser in die Lunge eindringt, saugt es Blut in sie hinein, dagegen entweicht Süßwasser aus den Lungen ins Blut und verdünnt es.«
Er nahm wohl an, ich hätte keine Erfahrung mit in Süßwasser Ertrunkenen. Tatsächlich aber hatte ich mehr Wasserleichen gesehen, die aus Höhlen geborgen worden waren als aus dem Meer. Aber er wollte das Thema offensichtlich beenden, und ich hatte nicht vor, mit ihm zu streiten.
»Das stimmt«, sagte ich. »Und aus welchem anderen Grund sind Sie zurückgekommen?«
»Das Sonnenereignis an der Pyramide. Sicherlich derselbe Grund, aus dem auch Sie hier sind.«
»Ja. Ich hatte noch ein wenig Zeit totzuschlagen.«
»Ein merkwürdiger Ausdruck… Zeit totschlagen«, wiederholte er. »Und seltsam angemessen in dieser Umgebung. Die Maya hatten so viele Kalender und Zeitzyklen, dass ihre Berechnungen galaktischer Ereignisse noch auf Millionen Jahre hinaus exakt stimmen. Und doch hatten diese Berechnungen viel mit Tod zu tun, mit dem richtigen Zeitpunkt für Opferungen oder Kriege. Selbst die Fruchtbarkeit der Erde wurde mit Blutvergießen und Menschenopfern an die Götter verknüpft.«
Er fasste mich leicht am Arm und führte mich zu einer Reihe von Reliefs, die unterhalb des Steinrings in die Mauer um den Ballspielplatz gemeißelt waren. »Schauen Sie hier«, sagte er und deutete auf eine der dargestellten Szenen.
Ein Fries aus Spielern in Schutzkleidung stand zu beiden Seiten eines enthaupteten Wettkämpfers, aus dessen Hals eine Blutfontäne spritzte, die zu einem Gewirr aus Schlangen und verästeltem Laubwerk stilisiert war. Ein Spieler hielt das Opfermesser in der rechten Hand, während er in der anderen den Kopf des Getöteten trug, auf dem noch immer der kunstvoll gefiederte Helm saß.
Dr. de Valdivia erläuterte mir seine Interpretation der Szene. »Der Spieler, der die Auszeichnung errang, das Opfer zu sein, sendet sein Blut aus, das die Fruchtbarkeit der Erde fördert - dargestellt durch die Laubranken. Und die Schlange ist natürlich für sich genommen bereits heilig, stellt aber außerdem die Nabelschnur dar, die alle mit der Urmutter verbindet.«
»Sie behaupten also, der Geopferte war in
Weitere Kostenlose Bücher