Das Maya-Ritual
Wirklichkeit der Sieger des Spiels«, sagte ich. »Das ist nicht die übliche Ansicht.«
»Schauen Sie, wo der Ring befestigt ist«, antwortete er und zeigte zu dem Steinkreis, der hoch über unseren Köpfen aus der Wand ragte. Er hatte die Größe eines Mühlsteins, und das Loch in der Mitte war groß genug, dass sich ein Mann durchwinden konnte. »Sie durften ihre Hände oder Füße nicht benutzen, nur Knie, Hüften und Ellenbogen, und der Ball bestand aus massivem Kautschuk. Wer gewinnen wollte, benötigte also außerordentliches Geschick. Und war deshalb würdig, geopfert zu werden. Verlieren konnte jeder, welchen Sinn hätte es also, einen Verlierer zu opfern? Man spielte um den Preis des Todes - darin bestand dieser ultimative Wettkampf.«
Es hatte eine gewisse Logik, aber nur wenn man eine Einstellung zum Leben zu Grunde legte, die der unseren entgegengesetzt war. Während ich überlegte, ob Dr. de Valdivia tatsächlich eine Kultur bewunderte, die einen solchen Sport ersinnen konnte, schaute ich auf meine Uhr und befand, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Das Sonnenphänomen sollte in einer halben Stunde beginnen.
»Ich glaube, wir gehen lieber zurück«, sagte ich.
Wir verließen den Ballspielplatz und kamen zu einer steinernen Plattform, etwa sechzig Meter lang und so hoch wie ein großwüchsiger Mann. Auf jedem der Blöcke, aus denen die Plattform bestand, war das Relief eines Schädels zu sehen, der auf eine Stange gespießt war, allesamt Fratzen im Profil, Reihe um Reihe.
»Die Azteken kannten dieses Gebilde ebenfalls«, sagte Dr. de Valdivia, als wir daran vorbeikamen. »Es ist ein tzompantli. Sie haben ein hölzernes Gerüst darauf gestellt , um die Schädel der Geopferten zur Schau zu stellen. Zu Tausenden, bei gewissen Gelegenheiten.«
»Was für Gelegenheiten waren das?«
»Das jeweilige Ende bestimmter astronomischer Zyklen. Dann herrschte für gewöhnlich große Furcht, die Erde würde ohne besondere Opfer nicht neu geboren werden. Aus ihrer Sicht retteten sie also die Welt.«
Mir fiel etwas auf an den Schnitzwerken, das ich nicht recht zu fassen bekam - irgendetwas an der Art, wie die Schädel dargestellt waren, ließ sie beunruhigender wirken, als es Abbildungen von Totenköpfen normalerweise sind.
»Sie waren natürlich rot angemalt«, sagte Dr. de Valdivia, unerschütterlich entschlossen, meinen persönlichen Fremdenführer zu spielen. »Und hier haben wir einen Chakmool:« Er zeigte mit seinem Stock auf die Skulptur einer menschlichen Gestalt, die unter den Bäumen ruhte, die Knie angezogen, der Kopf hoch erhoben und gebieterisch in unsere Richtung blickend. Vertraut von Touristenbroschüren und Miniaturversionen in Touristenläden, besaßen diese anderen Relikte aus Chichen Itzas dunkler Vergangenheit angeblich eine geschnitzte Aushöhlung im Bauch, um die noch schlagenden Herzen der Opfer aufzunehmen. Noch beunruhigender fand ich jetzt im Zusammenhang dessen, was wir gesehen hatten, dass das Gesicht des Chakmools nicht nur gebieterisch wirkte, sondern bar jeden menschlichen Mitgefühls war.
Ein überwältigendes Gefühl des Bedauerns wallte in mir auf. Bedauern für eine Kultur, die solcherart von ihrem düsteren Fatalismus niedergedrückt wurde, für ein Volk, dessen Beste und Tapferste an ein mörderisches Schicksal gefesselt waren, für eine Gesellschaft, in der Grausamkeit nicht zufällig geschah, sondern ritualisiert war und der Nachwelt in vorzüglichen Abbildungen überliefert wurde. Ein kurzer Beifallssturm ließ uns zur Pyramide eilen. Als wir auf den Platz kamen, rückte der Schatten der Eckstufe langsam an der Seite der steinernen Rampe hinauf, die in der Mitte der Nordseite hinabführte. Die Schlange entstand, Rauten aus Licht, gebildet aus den Lücken zwischen den projizierten Schatten der Stufen, die den Eindruck erweckten, als sei ihr Rücken mit Diamanten besetzt.
Sekunden später schien die Schlange aus Licht und Schatten beinahe lebendig zu werden, ihr Schwanz tauchte aus dem Tempel an der Pyramidenspitze auf, während ihr Kopf als große Skulptur mit offenem Rachen am Sockel erschien - Kukulkan, die gefiederte Schlange.
Alle spürten, dies war der Höhepunkt des Ereignisses, und begannen zu applaudieren, ein Tribut an die Architekten, die vor tausend Jahren die Pyramide nach der Sonne ausgerichtet hatten.
Solches Raffinement und solche Barbarei zugleich an ein und demselben Ort. Doch dann fielen mir andere Orte ein, andere Zeiten.
Dr. de Valdivia
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