Das Meer in deinem Namen
es schwer, sich seine Stimme ins Gedächtnis zu rufen, seine Augen. Sie hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber irgendwo auf dem Weg hatte sie ihn losgelassen. Vielleicht erst, als sie Joram gebeten hatte, bei ihr auf Naurulokki zu bleiben. Vielleicht schon damals auf Amrum, als sie das Herz aus Sand im Watt entdeckt hatte; vielleicht auch genau in dem Moment, als Joram vor neun Jahren erneut vor ihrer Tür aufgekreuzt war.
„Ich wollte mich bedanken für die Blumen, die du über die Jahre immer wieder auf meines Bruders Grab gelegt hast.“
Sie sah ihn an, wie er auf der Wiese stand. Der Abendnebel stieg um ihn auf, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht, eine Gestalt aus einem halbvergessenen Traum.
„Bist du wieder einmal auf der Durchreise?“
„Diesmal bleibe ich eine Weile. Ich habe hier einiges zu tun, deshalb habe ich mir ein Zimmer genommen.“
Sein Rücken war gebeugter, sein Haar silbern, seine Augen müde, aber so groß, dunkelblaugrau und voll geheimnisvoller Bemerkungen und Geschichten wie Henny sie seit jenem Silvesterabend auf dem Friedhof in Erinnerung hatte.
„Willst du auf einen Tee hereinkommen?“
Joram zögerte. Henny konnte sein Widerstreben spüren, auch nur der Gefahr nahezukommen, an einem Ort Wurzeln zu schlagen. Am Ende kam er nicht herein, sondern Henny servierte den Tee auf der Terrasse vor dem Küchenfenster und sie sahen zu, wie das Nachleuchten des Tages verlöschte, lauschten gemeinsam auf die Rufe der Hirsche, die aus dem herbstlichen Wald herüberhallten.
Tage später brachte er ihr einen Kerzenständer, aus rundlichen Treibholzstücken zusammengesetzt. Seidenweich war das von Wind und Wellen und Jorams Händen geschliffene Holz, als Henny mit dem Finger darüber fuhr. Er passte in das Haus, als wäre er dort gewachsen.
„Das ist ein besserer Dank als nur Worte“, meinte Joram verlegen und verschwand eilig.
Doch er kam wieder und mit der Zeit fühlte er sich weniger unwohl, ging Henny in Haus und Garten zur Hand oder unternahm Spaziergänge mit ihr. Oft kam er nicht herein, sondern hinterließ in der Nacht Briefe oder Gegenstände vor ihrer Tür. Manchmal blieb er tage- oder wochenlang weg, dann wieder kam er täglich vorbei. Henny nahm ihn, wie er war. Seit Nicholas ohne Abschied und Begründung gegangen war und die Liebe mitnahm, die sie für gegeben gehalten hatte, war für sie nichts mehr selbstverständlich, daher konnte sie mit Joram, wie er war, gut leben. Der Augenblick zählte, was danach kam, blieb ohnehin ungewiss.
Jorams Gegenwart wischte das Schmerzliche aus Hennys Erinnerungen an Nicholas und füllte eine Leere, die ihr nicht bewusst gewesen war.
Nicholas, von dem sie das niemals erwartet hätte, hatte sie verlassen; Joram aber, bei dem sie täglich damit rechnete, blieb überraschend lange.
Der Wind riss Hennys Schal zur Hälfte los und schlug ihn ihr um die Ohren. Mit einem Lächeln wickelte sie ihn neu. Das war eine der Wahrheiten, die ihr heute so klar erschienen. Sie hatte es lange nicht glauben wollen, aber es war möglich, wieder zu lieben. Es gab sie nicht, nicht für sie, die eine, einzige große Liebe. Wie die Wellen auf der Oberfläche des Meeres auftauchten, sich Richtung Himmel erhoben und wieder senkten, so konnte eine Liebe vergehen und eine neue folgen. Jede anders geformt und mit anderer Stimme, wie die Wellen. Bei manchen, wie Myra, waren es zahlreiche, kleine. Bei ihr, Henny, waren es zwei große gewesen, die sie wie eine Flut erfassten.
Die andere Wahrheit, von der der Sturm heute alle Schleier blies, war die Tatsache, dass ihr Motor ins Stocken geraten war. Ihr Herz war müde, spätestens seit der verschleppten Grippe im Winter. Der Kardiologe hatte es bestätigt. Sie sollte sich schonen und ihre Medikamente nehmen. Aber Henny war nicht nach schonen. Es gab ein Bild, das sie noch fertigstellen musste. Und sie wollte die Stürme spüren und den Frost und den Sand unter ihren Füßen, wollte Zeugin sein der Sonnenaufgänge, die die Winternächte beiseiteschoben, und der flammenden Abenddämmerungen über dem Horizont, solange sie noch hier war. Wie lange das sein würde, spielte keine Rolle. Das Bild noch fertig malen, dann wäre sie frei. Niemand außer Myra würde sie vermissen, und Myra hatte ein Leben lang bewiesen, dass sie sehr gut allein klarkam.
Seit Henny die Muschel mit den Zeichen darauf gefunden hatte, spürte sie, dass Joram anwesend war. Ob er lebte oder nicht, war zweitrangig. Entweder war er ihr ein Stück
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