Das Meer in deinem Namen
ihr vorkommt. Und sie wollte mich warnen, weil ich zum ersten Mal verknallt war. In die Freundin meines Freundes.“
Carly kuschelte sich wieder unter ihre Decke.
„Arme Tante Alissa. Ich wusste, wie schwer sie es mit uns hatte, aber nicht, wie kompliziert das alles für sie war. Auweia, sie würde bestimmt die Krise kriegen, wenn sie wüsste, dass wir beide am Meer sind!“
„Das wird sie nicht merken. Sie hat mir gestern noch am Telefon geschworen, dass sie ihren Hof in den Bergen die nächsten Wochen nicht verlassen wird. Die letzte Expedition war anstrengend. Ich glaube übrigens, seit sie ihren Franzl hat, geht es ihr besser. Der Mann strahlt eine Ruhe aus wie ein Berg. Lass uns jetzt schlafen, diese ungewohnte Seeluft macht mich hundemüde!“
Carly lauschte noch eine Weile auf sein Atmen, das ihr immer noch vertraut war, obwohl es zwanzig Jahre her war, dass sie ein Zimmer geteilt hatten. Es mischte sich mit dem leisen Wellenrauschen, das der Nachtwind über die Dünen trug.
Carly versuchte, ihre ungewisse Zukunft auszublenden. Wenn es ihr gelungen wäre, wäre sie in diesem Moment vollkommen glücklich gewesen.
In den silbernen Segeln des Bernsteinschiffs auf der Fensterbank spiegelte sich winzig die Mondsichel.
„Wach auf, Fischchen!“
Carly blinzelte verschlafen und sah Ralph mit einem blau verpackten Geschenk vor ihrer Nase herumwedeln.
„Was ist das?“
„Mach’s auf, dann siehste’s.“ Ralph ließ sich erwartungsvoll auf ihrer Bettkante nieder.
Zum Vorschein kam ein schimmernder blauer Badeanzug, über dessen Bauch ein Schwarm so albern grinsender Fische zog, dass Carly hell auflachen musste.
„Ich wollte nicht, dass du am Ende behaupten kannst, du hättest keinen Badeanzug. Zieh ihn gleich an. Frühstück ist auch schon fertig.“
„Danke. Er ist klasse.“ Carly sah ihren Bruder beklommen an. „Warst du denn im Meer schwimmen, seit ...“
„Ja. Einmal. Wie du siehst, hab ich’s überlebt. Und jetzt bist du dran. Komm.“ Er zog ihr die Bettdecke weg. „Ich gieß schon mal den Tee ein.“
„Ich muss doch weiter aufräumen. Die Zeit wird immer knapper, und heute Nachmittag kommt Elisa, die Bilder schätzen.“
„Nix da. Es ist früh am Morgen. Das geht alles trotzdem.“
Carly hörte seine energischen Schritte auf der Treppe und seufzte. Er würde keine Ruhe geben. Da war wieder die Stimme ihres Vaters aus einer längst vergangenen Zeit: „Der Floh ist nicht zu bremsen, wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat.“
Der Badeanzug passte perfekt. Sie zog Hennys Möwenkleid darüber.
Ralph hatte auf der kleinen Terrasse vor dem Küchenfenster gedeckt und ihr ein Brot mit Käse und Honig geschmiert, wie sie es mochte. Es hatte seine Vorzüge, einen großen Bruder zu haben.
„Bist du sicher, dass die Fische auf dem Badeanzug Salzwasserfische sind?“, fragte sie ihn mit vollem Mund. „Wir könnten auch im Bodden schwimmen gehen.“
„Unsinn. Das sind natürlich Universalfische. Bangemachen gilt nicht.“
Am Tor klapperte es.
„Hallo, ist jemand da?“ Der Briefträger kam mit seiner üblichen wichtigen Miene um die Ecke, reichte Carly ein Kunstmagazin.
„Guten Morgen.“ Mechanisch nahm sie es entgegen. „Sagen Sie, haben Sie eine Erklärung dafür, dass hier eine Postkarte ankam, die vor über einem halben Jahr in Dänemark abgeschickt wurde?“
„Ach, Sie meinen die von Joram Grafunder“, sagte er. Dass das Postgeheimnis theoretisch auch für ihn galt, ignorierte er ungeniert. „Ja, in Dänemark wurde nach einem Banküberfall eine Wohnung durchsucht, in der sich Waffen, Drogen und allerhand Diebesgut fanden. Darunter auch mehrere gestohlene Postsäcke.“
„Na, das ist wenigstens ein Grund.“ Carly war erleichtert. Es war ihr unheimlich gewesen, Post von einem Totgeglaubten zu bekommen.
Der Kormoran, der gern um acht Uhr am Ende der Buhne saß und nach Fischen spähte, sah an diesem Morgen zwei Menschen am Wellensaum stehen. Warum zögerten sie so? Fische gab es nun mal nur im Wasser. Der Kormoran fixierte die beiden, doch sie ließen sich viel Zeit, standen reglos. Offenbar hatten sie nicht vor, ihm etwas streitig zu machen. Er wandte den Blick wieder in die schimmernde Tiefe.
„Du machst den ersten Schritt erst dann, wenn du bereit bist“, sagte Ralph. „Wir haben Zeit. Ich könnte dich jetzt huckepack nehmen oder kurzerhand reinwerfen wie zuhause in den Wannsee, und es fällt mir schwer, das nicht zu tun, weil ich dich so gerne kichern höre.
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