Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
Vom Netzwerk:
voraus auf der Reise, die sie antreten würde, oder er würde ihr folgen. So oder so würden sie sich nicht allzu fern der Gegenwart treffen, draußen im Meer, wo sich alles traf – die Flüsse, die Enden aller Tage und die gelebten Leben – und in einem ewigen Tanz unter dem Himmel wogte und strömte.
    Sie würden sich dort finden, und damit war auch die unbeantwortet gebliebene Frage hinfällig, ob Joram auf Naurulokki einziehen wollte. Ob er sich zum Bleiben entschließen konnte.
    Henny dachte an ihren alten Freund Flömer, der mit den Schiffen gefahren und gekommen war und stets sagte: „Am Ende läuft alles auf das Blau am Horizont hinaus. Darin kannst du alles verlieren und alles finden.“

    Fast wäre sie in ihn hineingelaufen, in den großen Mann, der ihr unbemerkt entgegengekommen war. Er kam ihr entfernt vertraut vor.
    „Entschuldigung!“, sagte sie. „Ich war in Gedanken!“
    Helle Augen sahen sie unter der Kapuze eines Umhangs an. Der Stoff war vom gleichen Grau wie die Wellen und der Himmel, fast durchsichtig wirkte die Gestalt dadurch.
    „Das ist gut so. Dies ist der richtige Ort für Gedanken. Der Wind und die Weite werden sie aufnehmen und hüten. Die Wellen werden sie wiegen und bewahren.“
    Etwas an seiner Ausdrucksweise wirkte liebenswert altmodisch.
    „Bis sie sich mit der Zeit auflösen“, erwiderte Henny.
    „Die Zeit spielt keine Rolle. Im Meer ist alles gelöst, aber nichts löst sich auf.“
    Die hellen Augen lächelten sie an, ein Finger tippte an eine unsichtbare Mütze, dann setzte ihr Gegenüber seinen Weg fort. Es hatte begonnen zu schneien; verblüffend schnell war er im Grau nicht mehr zu sehen.

    Jetzt fiel Henny ein, warum er ihr vertraut vorkam. Es war der Mann, dem sie vor vielen Jahren schon einmal am Strand begegnet war, als sie wegen Nicholas verzweifelte. Der Mann, der dem Leuchtturmwärter auf dem Gemälde ihres Vorfahren Cord Kreyhenibbe ähnelte.
    Jetzt wusste sie auch, was in dem Bild fehlte, das sie gerade malte.
    Sie wickelte ihren Schal erneut fest und machte sich auf den Heimweg; ein plötzliches Gefühl der Dringlichkeit zog sie mit Macht an ihre Staffelei.

    Es war fast Mitternacht. Oben knarzten die alten Balken, die das Reetdach hielten. Unten zog es durch die Küchenfenster; der Wind blies den Geruch der Winternacht samt ein paar Schneeflocken durch die Ritzen. Henny beachtete ihn nicht. Sie war nur äußerlich anwesend. Ihre Seele stand in ihrem Bild auf dem Landungssteg im Hafen. Es lag kein Schnee, es war eine Spätsommernacht. Der Abendstern leuchtete hoch über dem Mast eines Zeesbootes, das am Steg schaukelte. Der Stern und das Boot mit den traditionell dunkelbraunen Segeln spiegelten sich im stillen Boddenwasser. An dem Stamm der krummen Kiefer, die oben an dem steilen Weg zur Straße und zum Deich hinauf führte, lehnte eine dunkle Gestalt in einem Umhang, die gestern noch nicht dort gewesen war. Ein großer Mann, leicht gebeugt. Er trug eine Laterne, doch man konnte sein Gesicht nicht sehen.
    Am Horizont ging ein zunehmender Mond auf, ließ Helligkeit über das Wasser fließen. So sah man die drei Schiffe, die aus drei verschiedenen Richtungen entschlossen auf die Bucht zustrebten. Ihre Segel waren gebläht, obwohl das Wasser und die Bäume keine Spuren von Wind aufwiesen. Das Mondlicht ließ diese Segel silbern wirken wie die Oberfläche des Boddens. Die Rümpfe waren aus Holz, das golden und seltsam durchsichtig schien.
    Die aufgewirbelten Spuren ihres Kielwassers unterbrachen die Stille in dem Bild.
    Henny trat einen Schritt von der Staffelei zurück, kniff die Augen zusammen. Waren das Gesichter, die man da in den Wirbeln erkannte? Teil des Wassers, und doch nicht? Im einen Augenblick sichtbar, dann wieder verschwunden? Hier ältere, dort jüngere, Frauen, Männer?
    Henny biss nachdenklich auf ihre Unterlippe, tauchte den Pinsel ein, setzte hier einen Akzent, da einen Schatten, dort einen Glanz.

Carly
1999

30. Suchen und Finden
     

    Carly und Ralph saßen auf der Treppe und warteten auf Elisa. Carly fühlte sich noch immer leicht und gelöst vom Schwimmen und träumte selig vor sich hin.
    „Wie ist es“, schreckte Ralph sie auf. „Hast du deinen Professor endlich losgelassen? Was ist mit diesem Jakob von nebenan, der klang vielversprechend, als du von ihm erzählt hast.“
    Sie mochte ihm nicht sagen, dass sie ständig auf eine Nachricht von Thore wartete. Dass schon die Tatsache, dass Ralph seinen Namen ausgesprochen hatte, die alte

Weitere Kostenlose Bücher