Das Meer in deinem Namen
Aber hier muss es deine Entscheidung sein.“
Der Wind hielt den Atem an. Er wartete auch auf Carlys Schritte ins Wasser. Am Horizont trieb eine Karawane von Schäfchenwolken. Die Wellen waren leise, nur gerade so hoch, dass sie sich am Strand brachen. Das Blau um Carly war hell, gedämpft, nicht so grell wie an jenem lang vergangenen Tag auf einer südlicheren Insel, dem Tag, als zwei gelbe Punkte nicht zurückgekehrt waren.
Ralph stand ruhig bis zum Bauchnabel im Wasser, streckte ihr die Hand entgegen.
„Hier ist es noch lange flach – bis zum Ende der Buhne, dort wo der Kormoran sitzt.“
Es war nicht die Tiefe, vor der sich Carly fürchtete, sondern die Weite. Der Horizont, der so fern, so fern war und an dem sich alles in Dunst auflöste. Sie konnte nicht erkennen, wo das Wasser aufhörte und der Himmel anfing. Nur zu gut verstand sie die Menschen früher Kulturen, die die Erde für eine Scheibe hielten und fürchteten, man könne von ihrem Rand fallen. Genauso fühlte sie sich.
Aber damals war es nicht so gewesen. Sie war das Fischchen, Vaters Fischchen, das sich in jedem Wasser pudelwohl fühlte und sich vor keiner hohen Welle fürchtete. Carly kniff die Augen zusammen und stellte sich ihr sechsjähriges Ich vor, das sich unbekümmert in die Fluten stürzte. Sie strich entschlossen die Jahrzehnte dazwischen und sah nur ihren Bruder im Wasser auf sie warten. Wie damals. Sie wagte einen Schritt und noch einen, merkte, wie ihre Füße und Beine sich zuhause fühlten hier, wie vertraut der Wellenschaum um ihre Knie kreiselte.
„Wie früher. Wie früher.“ Sie sagte die Worte vor sich hin wie eine Zauberformel.
Eine durchsichtige Garnele huschte gegen ihr Schienbein und erschrak noch mehr als Carly. Ein dunkler Fleck auf dem Boden erwies sich als Algenfeld. Die Pflanzen wanden sich um ihre Knöchel. Carly stolperte, spürte einen Moment neuen Schreckens, ehe sie sich mühelos mit einem energischen Ruck befreite. Das Wasser ging ihr nun über die Knie. Sie hatte Ralph erreicht, der sie beifällig anstrahlte, nahm seine Hand.
„Schau!“ Er deutete nach unten. Dort schwamm ein Schwarm streichholzgroßer Fische um ihre Beine.
„Deine Eskorte ist da, Fischchen.“
Auf einmal fühlte sie sich sicherer. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg Richtung Horizont. Der Kormoran hob den Kopf und sah ihnen zu. Das Wasser stieg Carly eiskalt bis zum Bauchnabel und sank dann zu ihrer Verblüffung wieder.
„Eine Sandbank“, sagte Ralph. „Die habe ich vorher gar nicht gesehen.“
Jetzt war das Meer wieder nur kniehoch. Sie drehten sich um. Das Land war erstaunlich weit weg, fand Carly, aber noch war sie nicht verlorengegangen. Fast fühlte sie sich betrogen. Da hatte sie allen Mut zusammengenommen, und nun stand sie wieder im flachen Wasser! Sie fasste Ralphs Hand fester.
„Lass uns reinrennen, wie früher!“
„Sicher? Wir können auch umkehren.“
„Auf keinen Fall. Jetzt nicht mehr!“
„Gut. Dann flieg, Fischchen!“
Sie rannten geradeaus, an dem Kormoran vorbei. Carly hielt den Blick auf die dritte Schäfchenwolke von links gerichtet. Die Schäfchen standen Wache, damit der Horizont Carly nicht verschluckte. Dann sah sie doch hinunter. Die Fische auf dem Bauch ihres Badeanzugs lachten noch immer. Keiner davon war gelb. Ralphs Badehose war froschgrün. Nirgends war etwas Gelbes in Sicht. Nichts würde passieren. Rechts und links von ihnen stoben silberne Tropfen hoch, fingen das Morgenlicht und warfen es trotzig dem Himmel zu.
„Flieg, Fischchen. Wie früher. Es ist wie früher“, flüsterte Carly und warf sich vornüber in eine Welle, die ihr entgegenkam. Hier draußen vor der Sandbank waren sie höher. Ralph ließ schleunigst ihre Hand los, damit sie schwimmen konnte.
Auf einmal war sie leicht, so leicht. Das Meer trug sie sicher. Der Fischschwarm huschte unter ihr, sie flog darüber.
„Juhuuuuuuh!“, brüllte sie über das Glitzern auf der Oberfläche.
„Juhuuuuuuh!“, jodelte Ralph zurück, der sich wachsam neben ihr hielt.
Carly schwamm weiter auf den Horizont zu, auf das Ende des Meeres, den Anfang des Himmels. Bis sie sich von einem Atemzug zum anderen zu leicht fühlte. Angst und Schwindel erfassten sie. Der Wind würde im nächsten Moment unter sie fahren und sie aus dem Wasser hoch und über den Horizont wirbeln, ins Nichts, so wenig wog sie, so wenig hielt sie. Wo war oben, wo unten? War sie überhaupt noch da oder nur ein durchsichtiges Wesen wie die Garnele von vorhin,
Weitere Kostenlose Bücher