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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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von der nur die Knopfaugen und ein schwacher Umriss zu sehen gewesen waren?
    Ralph sah die Panik in ihren Augen, war sofort neben ihr.
    „Zeit, umzukehren. Gleich hast du wieder Boden unter den Füßen. Ich bin da.“
    Seine Hand auf ihrer Schulter ankerte sie wieder. Sie konzentrierte sich auf die Dünen, auf die weiche helle Kurve der Bucht. Zuhause, dachte sie, gleich wieder zuhause. Sie sah schon den dunklen Felsen, der ein paar Meter vom Strand entfernt im Wasser lag.
    Dann war Sand unter ihren Füßen, das Wasser fiel zurück, perlte silbern an ihr herunter, der Sand wurde warm und trocken und dann lag sie schnaufend am Flutsaum, drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme in den Himmel.
    „Ich war im Meer! Ralph, wir waren im Meer!“
    Der Kormoran hörte ihr befreites Lachen über das Wasser hüpfen und flog davon. Er liebte seinen Frieden. Die Menschen waren zu seltsam.
    Ralph warf sich neben Carly.
    „Ja, wir waren im Meer! Ich bin stolz auf dich.“
    „Wir waren im Meer, und wir sind trotzdem noch da. Und es war herrlich. Ralph, ich bin geflogen!“ Carly wurde ernst. „Danke, Floh“, sagte sie und umarmte ihren Bruder, der sie ganz fest hielt. „Ich glaube, ohne dich wäre ich nach Berlin zurückgefahren ohne es zu schaffen. Und dann hätte ich mich ewig geschämt, weil ich gekniffen habe.“
    Sie setzte sich auf, schlang die Arme um die sandigen Knie. Die Schäfchenwolken waren davongesegelt, klar und gerade lag der Horizont auf dem Rand der Welt, aber er hatte nichts Bedrohliches mehr. Ihr Blick ruhte darauf aus und es fühlte sich leicht und frei an. Nur ein grauer Strich trieb tief über dem Wasser, ganz fern. Diese Traurigkeit würde immer dazugehören, aber auch das silbergoldene Leuchten darüber.
    Das Meerwasser trocknete auf ihrer Haut wie ein Segen nach einer Taufe. Sie spürte das Salz kribbeln. Am liebsten nie mehr duschen, dachte sie selig.
    Der Wind hatte zugenommen. Eine Welle brach, schrieb eine unregelmäßige Zeile aus weißem Schaum vor Carlys Füße und zog sich wieder zurück. Im Sand blieb etwas liegen. Eine Muschel, dachte Carly, ich werde sie mir zum Andenken an diesen Tag mitnehmen. Sie stand auf, klopfte sich den Sand ab und stapfte auf die kleine Erhebung zu.
    „Was ist?“, fragte Ralph, der sah, wie Carly erstarrte, als sie danach greifen wollte.
    „Das ... das ist ein Seestern!“
    „Tatsächlich. Die findet man an der Ostsee nicht oft. Nicht am Strand, nur die Fischer.“
    „Ralph! Weißt du noch, was wir Vater nachgerufen haben, an dem Tag? Was er uns versprochen hat?“ Carly sah ihn mit großen Augen an.
    „Einen Seestern“, sagte Ralph leise. „Er hat uns einen Seestern versprochen.“
    Sie standen einen Augenblick still da und sahen auf ihren Fund hinab, ehe Carly sich bückte und ihn andächtig aufhob. Er war erstaunlich groß für einen Ostseeseestern, bedeckte fast ihre ganze Hand.
    Carly dachte an Zeilen, die sie in einer Notiz Hennys gelesen hatte, über die Muschel, die sie gefunden hatte und die ihr wie eine Nachricht von Joram erschienen war.
    „Das Meer in deinem Namen ...“, flüsterte sie. „Ralph, das Meer hat uns in Vaters Namen einen Seestern geschenkt. Er ist ... hier – spürst du das?“
    Er legte einen nassen Arm um ihre Schultern.
    „Ja. Ich spüre es auch.“
    „Es fühlt sich alles ... leichter an als vorher“, sagte Carly staunend.

    Draußen vor der Sandbank segelte der Kormoran in einem Aufwind.

Henny
1999

29. Der Wahrheitswind
     

    An den Buhnen waren die Algengardinen zu bizarren Vorhängen aus Eiszapfen erstarrt. Auf den Dünen trugen die gebeugten Gräser einen Pelz aus Raureif. Weiße Spitze säumte das Meer und knisterte unter Hennys Stiefeln. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, wanderte sie gegen den Wind an. Mal nahm er ihr den mühsam gewordenen Atem, manchmal blies er ihr die würzige Luft direkt in die Lunge. Sie liebte die erbarmungslose klare Kälte. Es war Ende Februar; bald würde der Frühling wieder versöhnliches Grün über die Sanddornbüsche und Silberpappeln pinseln. Die Luft würde weich werden und die Wellen zärtlich von Wärme und Licht erzählen. Doch jetzt fuhr der Winter noch einmal mit letztem grandiosem Nachdruck über die Küste. Dieser scharfe Wind vom Meer her ließ nichts anderes zu als nackte Wahrheiten.
    Nicholas, dem sie vor so langer Zeit an diesem Strand das Bernsteinschiff geschenkt hatte, war heute nur ein Echo, ein fernes Flüstern im Rauschen von Wind und Wellen. Sie fand

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