Das Meer in deinem Namen
Sehnsucht in ihr weckte. Immerhin waren hier auch schon halbe Tage vergangen, die so aufregend waren, dass sie kaum an Thore gedacht hatte. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?
„Jakob ist sehr nett“, sagte sie.
„Nett! Nett ist auch der Briefträger.“
Mit Erleichterung hörte Carly Stimmen am Gartentor. Synne kam den Hügel herauf, energischen Schrittes gefolgt von einer kleinen, runden Frau mit einer weißen Igelfrisur von knallroten Strähnen durchzogen.
„Das ist Elisa“, stellte Synne vor.
Wache braune Augen strahlten Carly an.
„Hallo. Wo sind die Bilder? Gibt es eine Liste?“
„Ja. Sie ist leider nicht sehr lang.“
Elisa musterte die Liste mit zusammengekniffenen Augen, lief dann schweigend damit durch jedes Zimmer, stand länger vor jedem Bild, fuhr zärtlich über die Möbel von Joram, maß an Rahmen und am Schreibtisch herum und machte sich eifrig Notizen. Schließlich setzte sie sich an den Küchentisch und begann zu rechnen.
„Tee, bitte“, sagte sie, ohne aufzusehen.
Den hatte Carly schon fertig, stellte ihr eine große Tasse hin.
Dann zog sie sich mit Synne und Ralph auf die Terrasse zurück, um Elisa und ihre Zahlen nicht zu stören. Durch das offene Fenster sahen sie, wie Elisa schließlich einen Strich unter eine Summe zog und Carly reichte.
„So ungefähr.“
Bekümmert betrachtete Carly den Zettel. Es war eine anständige Summe, aber nicht so beeindruckend, dass sie reichen würde, um Thores Haus zu renovieren. Insgeheim hatte sie gehofft, Hennys und Jorams Kunst würde so viel Gewinn bringen, dass Thore Naurulokki behalten konnte. Das hatte er zwar abgelehnt. Aber Peer und Paul hatte es hier so sehr gefallen. Vielleicht hätten sie ihn gemeinsam umstimmen können.
Elisa heftete die Liste an Hennys leere Staffelei und stellte sich mit in die Hüfte gestemmten Armen davor.
„Ich verstehe das nicht. Sie hat eine solche Menge Farben und Pinsel und Papier gekauft, ständig. Sie hat so viel gezeichnet. Sie war immer am Malen, immer kreativ.“
„Das hat der Briefträger auch erzählt. Sie war fast jeden Tag an der Staffelei, wenn er die Post brachte.“
„Also müssen noch irgendwo viel mehr Bilder sein. Es sei denn, sie hat sie an jemanden verkauft, den ich nicht kenne und von dem ich nichts weiß. Aber das glaube ich nicht. Sie verkaufte nur, wenn sie Geld brauchte, und sie gab verdammt wenig aus. Habt ihr im Keller nachgesehen?“
„Oh ja. Da war nur die Gans und sehr viel Holz. Ich habe Anna-Lisa gefragt, sie sagt auch, Henny hat immer gemalt, aber wo noch Bilder sein könnten, weiß sie nicht.“
„Habt ihr Myra Webelhuth gefragt?“
„Nein. Sie ...“
„Sie ist furchteinflößend, nicht?“, half Synne.
„Unsinn. Sie mag nur keine Männer. Ich werde sie holen. Wenn jemand weiß, ob es mehr Bilder gibt, dann sie.“
Elisa marschierte entschlossen Richtung Nachbargrundstück.
„Soll ich mich verkrümeln?“, rief Ralph ihr amüsiert nach.
Elisa winkte ab. „Sie sind nur ein Bruder. Brüder sind ungefährlich.“
Synne lachte.
„Mein Bruder ist er nicht.“
„Ach, Synne. Dich zu beschützen hat selbst Myra aufgegeben.“ Weg war sie.
„Ich mach mehr Tee“, sagte Carly und sah sich beklommen in der Küche um. Ob alles ordentlich genug war? Sie wollte keine Schelte von Myra Webelhuth riskieren. So etwas ging sie gern aus dem Weg.
„Was hat diese Myra gegen Männer?“, fragte Ralph.
Synne zog eine Grimasse.
„Sie hatte ein Kind von einem Kapitän, der im Krieg Lebensmittel schmuggelte. Er tauchte nie wieder auf. Diese Tochter wurde wohl später ihrerseits von irgendeinem Mann sitzengelassen. Und dann hat sie natürlich diesem Nicholas nie verziehen, dass er Henny ohne ein Wort verlassen hat. Henny war wie eine kleine Schwester für Myra. Und zwar deswegen, weil Hennys Mutter bei der Geburt starb und Hennys Vater das Baby bei seinen Großeltern ließ und auf Nimmerwiedersehen verschwand – angeblich ist er später im Krieg gefallen. Auch das verbesserte nicht gerade Myras Meinung von Männern. Beinahe kann man sie verstehen. Der einzige Mann, den sie mag, ist Flömer. Die kennen sich ein Leben lang. Anscheinend vertraut sie ihm. Aber wer würde Flömer nicht vertrauen?“
Ralph sah aus dem Fenster und stieß einen leisen Pfiff aus.
„Wie alt sagtet ihr ist diese Frau Webelhuth?“
„Über siebzig jedenfalls. Warum?“
„Wenn sie keine Männer mag, warum trägt sie dann so heiße Höschen? Sie kann es sich übrigens leisten. Und das
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