Das Meer in deinem Namen
konnte, bohrte Carly ein Loch in den abgeschnittenen Blechdeckel einer Konservenbüchse, steckte ihn auf den Aststummel und die Kerze obendrauf. Der Ast bohrte sich in das noch weiche Wachs. Carly konnte die Kerze in aller Ruhe geraderichten und stützte sie dann ab, bis sie völlig erkaltete. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Zukunft hin oder her, sie ahnte jetzt, was Henny an diesen künstlerischen Tätigkeiten glücklich gemacht hatte. Man vergaß die Welt um sich herum dabei völlig.
Draußen leuchtete der Himmel weich aprikosenfarben. Carly sah an sich herunter. So schmutzig war sie lange nicht gewesen. Erst der Dachboden, dann das Klecksen mit dem Wachs. Zum Glück hatte sie vorher ihre alten Jeans angezogen und nicht Hennys Möwenkleid.
Jetzt schwimmen!, dachte sie. Wieder schwimmen und sich leicht fühlen, über ihre Angst hinweggetragen vom Blau, wie heute früh. Das Meer konnte den Dreck und die Müdigkeit fortspülen und die letzten Reste des Schreckens, den es für sie so lange hatte.
Von Ralph war nichts zu sehen, aber das konnte sie jetzt allein – das wollte sie sogar allein, stellte sie fest.
Als sie am Strand ankam, lag er verlassen. Die Touristen waren ohnehin weniger geworden; um diese Tageszeit waren alle fort, da keine Sonne zum Bräunen mehr da war. Zum Glück war es windstill, das Meer spiegelglatt, trotzdem war die Luft bereits kühl. Ein Schwarm Mücken stürzte sich auf Carly. Aber das Wasser reflektierte unwiderstehlich das warme Orange des Himmels. Der nasse Sand am Wellensaum schimmerte bronzefarben. Carly watete in die Bahn aus goldenen Funken hinein, die vom Strand bis zur tiefstehenden Sonne wies, hungrig darauf, sich in diesen Farben zu verlieren. Überrascht stellte sie fest, dass das Wasser wärmer war als die Luft. Ganz allein war sie nicht. Der Kormoran saß wieder am Ende der Buhne und beobachtete sie, ein wenig spöttisch, wie ihr schien.
„Glaub nicht, dass ich so feige bin und wieder umdrehe“, sagte sie zu ihm und ließ sich fallen. Sie wusste ja nun, wie flach die See hier war. Mit ruhigen Bewegungen schwamm sie hinaus, wartete auf die Angst. Sie kam nicht, weder aus der leuchtenden Weite noch aus der klaren Tiefe.
„Siehste!“, sagte sie triumphierend zu dem Kormoran, als sie auf seiner Höhe ankam. Er schlug einmal mit den Flügeln, dann setzte er sich wieder zurecht.
Carly fühlte mit den Füßen nach dem Boden. Sie konnte ihn gerade noch erreichen. Noch ein paar Schwimmzüge, dann musste sie auf der Sandbank sein. Sie atmete tief ein und startete durch, lieferte sich auf der Sonnenbahn ein Wettrennen mit sich selbst. Tschüss, Angst, ich bin dir davongeschwommen! Sie stellte sich die Gräser auf dem Boden vor, die Tangfahnen, die Muscheln und kleinen Fische, die Garnelen. Über alle flog sie hinweg. Vielleicht sahen sie ihren Schatten und fragten sich, was für ein Wesen der Luft da über ihnen schwebte.
Dann traf ihr Knie auf Sand. Sie stand auf, ja, hier ging ihr das Wasser kaum bis zum Bauch. Wie weit weg der Strand war und wie die Dünen im letzten Sonnenlicht rötlich leuchteten! Selbst über den Kiefern lag ein Schimmer. Aber ein Wind war aufgekommen, der Carly frösteln ließ und in ihren Ohren unangenehm pfiff. Sie wandte sich zum Horizont, um der Sonne einen letzten Gruß zu gönnen, ehe sie sich auf den Rückweg machte. Doch das Funkeln verlöschte in dem Moment, als Carly sich umdrehte. Über den Horizont wälzte sich ein dicker grauer Streifen. Entweder hatte er die Sonne verschluckt oder sie war gerade untergegangen. Zeit zum Aufbruch. Das Meer wirkte längst nicht mehr so einladend wie vorhin; die warme Aprikosenfarbe war schlagartig einem einheitlichen Bleigrau gewichen.
Carly beeilte sich, auf den Strand zuzuschwimmen. Sie fühlte sich von aller Tagesarbeit reingewaschen und wie in einem Rausch, aber nun sehnte sie sich nach einer heißen Dusche und danach, auszuprobieren was für ein Licht wohl ihre Kerze in die gemütliche Küche von Naurulokki werfen würde.
Der Strand jedoch wollte nicht näherkommen. Carly sah sich nach der Buhne mit dem Kormoran um, doch die war verschwunden. Sie drehte sich nach dem Horizont um und sah gerade noch, dass die wattegleiche graue Walze auf sie zurollte. Noch ehe sie begriff, was sie sah, umfing sie der dichte Seenebel wie ein feuchter Umschlag. Totenstille herrschte darin, er schluckte jedes Geräusch. Hätte sie sich nur nicht umgedreht! Jetzt war sie nicht mehr sicher, in welcher Richtung der
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