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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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drücken, in die Länge zu ziehen. Sie kniff die Augen zusammen, sah in der Form, die auf ihrer Töpferscheibe entstand, eine Gestalt auftauchen. Carly nahm die alte Nagelfeile zur Hand, die ihr gestern schon gute Dienste geleistet hatte. Sie ritzte, schnitzte, zeichnete Vertiefungen und Linien. Schnitt hier mit einer Drahtschlinge etwas heraus, fügte dort etwas an. Über das Anfügen las sie in einem herumliegenden Buch nach. Man musste beide Flächen einritzen, damit sie rau wurden, dann mit Tonschlamm aneinanderkleben und die Ansätze sauber verschmieren, ohne dass eine Luftblase eingeschlossen wurde, die sich beim Brand ausdehnen und die Figur sprengen würde.
    Carly spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Sie war eins mit dieser Figur. Es war kein Selbstportrait, sondern ihr seelischer Zustand, zur Form geworden. Eine Frau voller Hoffnungen und Sehnsucht, die von einer neuen Zukunft träumte und dabei Flügel spürte, die sie leicht machten wie die Möwen auf dem Wind.
    Als sie sich am Ende vorschriftsmäßig an das Aushöhlen machte, beschlich sie ein sehr schlechtes Gewissen. Mit diesem Machwerk war sie Harry bestimmt nicht behilflich gewesen.
    „Carly – wie läuft’s?“
    Harry kam mit einer Tasse Tee herein.
    „Harry. Ich – es tut mir leid. Gleich morgen versuche ich es noch einmal mit den Seehunden, versprochen. Und auch mit dem Lemurendings. Es tut mir wirklich leid, ich wollte das nicht, es ist eben so passiert.“
    „Shhh!“ Harry legte den Finger vor den Mund, stellte vorsichtig den Tee ab um nicht auf den Ton zu spritzen und schlich um die Werkbank herum, drehte behutsam die Scheibe, betrachtete die Figur von allen Seiten.
    „Mensch, Carly.“
    „Ich weiß, ich weiß. Ich wollte wirklich den Auftrag erledigen. Ich schaffe das schon noch ...“
    Er atmete tief ein.
    „Kannst du nicht mal kurz die Klappe halten? Ich muss mich erholen. Carly, das ist gut, das ist verdammt gut! Großklaus hin oder her, wenn du immer solche Sachen machst und wir sie professionell glasieren – und du wirst mit Erfahrung noch weitaus besser werden – dann finden wir so oder so Käufer. Obwohl“, er sah von Carly zu der Figur, „die hier solltest du wahrscheinlich wirklich behalten. Weißt du was, wir nehmen sie gleich mit hinaus in den Garten und machen ein Foto von ihr. Das lade ich auf unsere Website hoch und stelle dich damit als Mitarbeiterin vor. Gute Werbung, eine ganz neue Note für die Töpferei Prevo!“ Zärtlich schob er die Figur auf ein Blech, trug sie hinaus und holte seine Kamera.
    Carly saß glücklich zwischen den letzten Gänseblümchen und sah ihm zu.
    Es gab also doch eine Berufung für sie, und es waren nicht die Sterne, sondern Erde. Wer hätte das gedacht.

    Carly bemerkte jedoch auch, dass sie völlig erschöpft war. Als hätte der Ton all ihre Kraft aufgenommen und in die Figur gebannt.
    „Das kenne ich“, meinte Harry lächelnd. „Das geht mir auch so, wenn mir was Gutes gelungen ist. Geh nach Hause, die Seehunde können warten und der Großklaus auch.“
     
    Sie radelte auf dem Deich entlang, genoss den Seewind auf ihrer heißen Stirn. Das Land hier war so schmal und zerbrechlich und wandelbar und flüchtig, genau wie Menschen, und so lebendig und triumphierend und stolz und traurig und trotzig und wunderschön und ewig. Und sie gehörte jetzt hierhin, hier wo jeder Tag, jeder Himmel anders aussah, jeder Wind anders sprach, der Löwenzahn noch im Herbst blühte, hier wo alles wertvoll und nichts selbstverständlich war, denn der Sturm und die Flut konnten jederzeit nehmen, was sie wollten.

    Beflügelt fuhr sie einen Umweg zu Daniels Laden. Sie brauchte ohnehin Tee, und sie konnte auch ihn des Zimmers wegen fragen. Je mehr Leute die Ohren und Augen offen hielten desto besser.
    Er war dabei, vor dem Haus die beim Sturm heruntergefallenen Äste zu Kaminholz zu zersägen.
    „Hey Carly! Schön, dich zu sehen. Ich wollte schon bei dir vorbeikommen, aber das hier hat länger gedauert, als ich dachte.“ Er suchte in seiner Hosentasche, drückte ihr einen zusammengefalteten Umschlag in die Hand.
    „Dein Anteil! Ich habe alle Kerzen verkauft bis auf eine, die ich im Laden als Muster behalten will. Sie sieht da so gut aus. Schau es dir an. Ich komme gleich.“
    Tatsächlich brachte die Kerze zwischen den Tees, Kissen und Keramiktassen – die Carly nun ganz anders betrachtete – ein Stück raue Natur und gleichzeitig Gemütlichkeit in die Atmosphäre. Ein Schild lehnte daran:

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