Das Meer in deinem Namen
böse?“
Sie warf sich erneut auf ihn und umarmte ihn so fest, dass er nach Luft japste. Zusammen fielen sie ins Gras.
„Orje, du bist der Beste! Ich danke dir so sehr für den Schubs, den du Tante Alissa und mir gegeben hast. Jetzt ist alles gut. Allein hätte ich nie den Mut gehabt. Du bist ein wahrer Freund!“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Du brauchst nicht rot zu werden. Möchtest du einen heißen Sanddornmuffin?“ Sie stand auf und angelte einer neugierigen Ameise den Teller vor der Nase weg.
Einträchtig saßen sie kauend auf der Treppe.
„Lecker! Ich hatte gar keinen Appetit mehr aus Angst, du würdest nie wieder mit mir reden.“
„Was machst du überhaupt hier?“
„Ich bin zwei Tage bei Synne. Aber ich wollte das erst mit dir klären.“
„Da wird sie sich aber freuen. Los, geh zu ihr, und nimm Muffins mit. Warte, ich hole was zum Einwickeln, und du kannst mir solange die Sweet Caroline zu Ende spielen.“
Als er fort war, machte sie sich einen Tee und setzte sich wieder auf die Treppe. Das Licht aus der Küche fiel heimelig auf die kleine Terrasse in ihrer hölzernen Umrandung. Die Muscheln, die noch in dem verwitterten Holz der alten Buhne steckten, leuchteten weiß. Hinter Carly trieb der Wind raschelnde Herbstblätter in der Loggia um. An der Hausecke rüttelte er Klänge aus Jorams Windspiel. Fern im Wald röhrte erst ein Hirsch, dann ein zweiter, kurz darauf rief ein Käuzchen. Carly fuhr zusammen. Waren da nicht auch Stimmen im Wind? Nein. Wie oft hatte sie sich das schon eingebildet. Es war nur so, dass sie die unsichtbare Gegenwart von Henny und Joram manchmal so deutlich spürte, dass ihr Schweigen beinahe unnatürlich wirkte.
Wie gern hätte sie mit Henny über ihren unvernünftigen Entschluss, hierzubleiben, gesprochen. Über künstlerische Möglichkeiten geplaudert. Oder Jorams Meinung dazu gehört.
Ob das Haus glücklich werden würde?
Hinter den Dünen rauschte das Meer nachdrücklicher als noch vor zwei Wochen, als es sommerlicher war. Trotzdem hörte sie am Tor jetzt Geräusche. Sie hatte sich doch nicht getäuscht. Männerstimmen. Fremde.
„Hallo? Jemand da? Frau Templin?“
„Ja?“ Carly sprang auf, zögerte.
„Keine Angst. Polizei! Wir müssten was mit Ihnen besprechen. Können wir hereinkommen?“
Ein flaues Gefühl breitete sich in Carlys Magen aus. Sie lief den Pfad herunter, öffnete zwei Männern in Uniform das Tor. Einer trug eine Schachtel. Den anderen erkannte sie jetzt wieder, es war der, mit dem sie in Prerow wegen Joram gesprochen hatte.
„Was ist passiert?“ Tante Alissa hatte einen Unfall gehabt, schoss es ihr durch den Kopf. Oder Orje, war ihm auf dem Weg zu Synne etwas geschehen? Die verflixten Touristen rasten oft dermaßen die Hauptstraße entlang ... Oder Ralph, in Dänemark! War er ... war er etwa schwimmen gegangen und – gab es dort nicht auch gefährliche Strömungen ...? Carly wurde eiskalt.
„Nichts. Nichts, was Sie direkt betrifft, bitte beunruhigen Sie sich nicht. Können wir ins Haus gehen? Jensen, Malte Jensen, und das ist mein Kollege Sven Hering, den kennen Sie ja schon.“
Stumm ging Carly voraus, lotste die Männer in die Küche. Dort war Licht, dort duftete es nach Tee. Sie mochte die Polizisten nicht in das kühle, wenig benutzte Wohnzimmer bitten. Im Moment konnte sie sich nicht einmal erinnern, wo dort der Lichtschalter war.
Sven Hering sah sich etwas überrascht um und stellte die Schachtel auf dem Tisch ab.
„Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte Carly mechanisch.
„Nein, danke. Setzen wir uns doch.“
Das Scharren der Stuhlbeine hallte überlaut durch den Raum. Carly sah, wie sich die sonnengebleichten Härchen auf ihren Armen aufstellten.
Malte Jensen nahm ein Papier aus einem Hefter, warf einen Blick darauf.
„Sie sind Frau Carlotta Templin, ist das korrekt? Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen? Nur der Form halber.“
Wieder Stuhlbeinscharren. Carly suchte ihre Tasche im Flur.
„Hier, bitte.“
„Danke. Frau Templin, Sie kannten den Herrn Joram Grafunder nicht, nach dem Sie sich bei meinem Kollegen erkundigt haben?“
„Nein. Ich kenne nur seine Kunst. Ich interessierte mich dafür, weil sich hier im Haus mehrere seiner Werke befinden.“
Sie konnte der Polizei schlecht erklären, dass Joram Grafunder sie von Anfang an fasziniert hatte. Vielleicht um Hennys willen, vielleicht aber auch, weil sie dämlich genug war, sich ein wenig in einen Mann zu verlieben, der ihr Großvater sein
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