Das Meer in deinem Namen
zwei stehen geblieben, ob nachts oder mittags würde ein Geheimnis der Zeit bleiben. Sie zeigte einen zunehmenden Dreiviertelmond.
Carly zog sie auf, stellte die Zeit ein und schüttelte, lauschte. Nichts. Sie legte die Uhr neben sich auf Hennys Kopfkissen.
Sanft nahm sie die feine silberne Kette mit dem Anhänger heraus. Es war eine echte Sternschnuppe, nicht aus Stein, sondern aus Metall, sie erkannte das sofort, am Gewicht, an der Oberfläche. Schwer war sie und unregelmäßig geformt, von der Reibung in der Erdatmosphäre glatt geschmolzen und von stumpfem Glanz. Carly hielt sie, bis das Metall die Wärme ihrer Hand annahm, dachte an Joram, dachte an Henny. Dann legte sie sich die Kette um den Hals, spürte tröstlich das Gewicht.
Draußen über dem offenen Fenster flüsterte ein aufkommender Wind im Reetdach. Er jagte über dem Meer die Wolken fort und gab die Sterne frei.
Joram sagt, er hat den Anfang des Windes gefunden, dachte Carly. Naurulokki liegt am Anfang des Windes. Wie schön. Und das Ende des Windes lebt in den Meeren, treibt die Strömungen um die Welt und mit ihnen das, was bleibt von Joram, Henny und den anderen.
Neben ihr begann die Uhr zu ticken.
39. Vermächtnisse
Der Seesack enthielt hauptsächlich abgetragene Kleidung. Außerdem Bücher über Holzbehandlung, Meeresströmungen, Wetterbeobachtung und den Vogelzug. Sorgfältig in einen Pullover eingewickelt fand Carly eine Leinentasche mit Werkzeug: Schnitzmesser, Feilen, kleine Sägen. Carly wendete sie hin und her, strich mit dem Finger darüber. Was für wundervolle Dinge Joram damit gezaubert hatte. Sie würde sie in Ehren halten. Zwar musste sie natürlich Thore fragen, ob er Interesse hatte, aber sie wusste, wie die Antwort lauten würde. Thore hatte schon Schwierigkeiten mit den Knöpfen am Teleskop oder am Radio; Werkzeug lag ihm ferner als die äußersten Galaxien am Rande des Alls.
Sie würde das Werkzeug benutzen, wenn sie töpferte. In lederhartem Zustand konnte man am Ton gut schnitzen und feilen, hatte Harry sie gelehrt. Das würde sich ein wenig so anfühlen, als könnte sie dazu beitragen, dass etwas von Joram weiterlebte.
Ganz unten entdeckte sie den Holzmann, in einen Schal gehüllt. Behutsam stellte sie ihn auf die Fensterbank neben die bisher einsame Frauenfigur, ganz nahe, so dicht wie möglich. Sie waren beide im wahrsten Sinne des Wortes aus demselben Holz geschnitzt, man sah es an der Färbung, der Zeichnung. Gemeinsam stemmten sie sich nun dem Wind entgegen, sahen hinaus auf das Meer. Carly fand es tröstlich.
Halt, da war noch ein Seitenfach im Seesack. Carly öffnete den Reißverschluss. Zwei Videokassetten! Carlys Herz machte einen Sprung. Die Aufnahmen, von denen Joram in dem Brief erzählt hatte? Natürlich, die waren bestimmt nicht alle in der Kamera kaputtgegangen. Er hatte von „letzten Aufnahmen“ gesprochen. Also musste es vorher schon einige gegeben haben.
Sie dachte fieberhaft nach. Da klopfte es unten heftig an der Tür.
„Carly! Ich bin’s, Jakob! Carly, ist alles in Ordnung?“
„Ich komme!“
Er betrachtet sie besorgt, als sie öffnete.
„Ich habe gesehen, dass die Polizei hier war. Ist etwas passiert? Kann ich dir helfen?“
„Vielleicht. Komm rein.“ Sie hielt ihm die Kassetten vor die Nase.
„Du hast nicht zufällig einen Apparat, in den diese reinpassen?“
„Doch, hab ich. Warum?“
„Setz dich. Ich muss dir was sagen.“
Sie erzählte ihm alles. Er schwieg eine Weile.
„Traurig. Aber passend für Joram, dieser einsame, freie, seltsame Tod. Nicht auf der Erde, nicht im Himmel, sondern dazwischen. Er war immer – dazwischen. Soll ich morgen mit zum Beerdigungsinstitut kommen?“
Sie sah ihn dankbar an.
„Das wäre toll. Du kanntest ihn wenigstens.“
„Wenn du willst, kann ich den Apparat holen und wir versuchen, ihn an den alten Fernseher hier anzuschließen. Du möchtest die Kassetten bestimmt lieber hier ansehen als bei mir drüben, oder?“
Er war so wunderbar.
„Danke, dass du das so einfach verstehst. Sie gehören nach Naurulokki, die Bilder – nein, Filme.“
„Gut, ich bin gleich zurück. Oder ist es dir zu spät? Morgen geht auch.“
„Nein, bitte. Ich könnte jetzt sowieso nicht schlafen.“
Bevor er ging, nahm er sie kurz in den Arm.
„Sei nicht zu traurig. Ganz zuhause war er im Leben nie. Jetzt ist er frei – und sie sind zusammen, Henny und er, wo auch immer.“
„Ja, das spüre ich auch.“
Carly machte Tee, dann fummelte sie
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