Das Meer in deinem Namen
Schlafzimmer, wo auch der Seesack stand. Sie hatte ihn bis auf den einen Blick hinein nie ausgepackt, es war ihr wie eine Verletzung von Jorams Privatsphäre erschienen.
Sie stellte die Schachtel daneben, öffnete das Fenster, um die frische, klare Herbstnacht einzulassen, und streckte sich auf Hennys Bett aus, damit der Schwindel in ihrem Kopf sich legte. Sie hatte es bisher nicht berührt, aber jetzt schien es der richtige Ort, wo sie um Joram trauern konnte.
Ein Kissen fiel herunter, Carly beugte sich über die Kante um es aufzuheben. Unter dem Bett lag hell ein Blatt Papier. Carly hob es auf. Eine bunte Zeichnung, von Joram signiert. Ungläubig betrachtet sie das Bild, dann lächelte sie. In ihrer Trauer stieg wie eine Seifenblase eine heitere Leichtigkeit auf, als hätte sie Jorams Stimme gehört: „Alles ist gut, wie es ist.“
„ Musik-Bauchnabelbürste “, stand unter der Konstruktion, und auf der Rückseite: „ Für Henny zum Geburtstag .“
Carly hatte Jorams heitere Seite vergessen, dabei war sie dieser doch schon am ersten Abend in Gestalt der Ambi-Ente begegnet.
Jetzt fühlte sie sich in der Lage, sich mit Jorams Sachen zu befassen.
Oben in der Schachtel lag die Brieftasche. Abgegriffen, schlicht, aus Leder, das vom Gebrauch glatt und dunkel geworden war. Innen der Ausweis, ein paar Bons von Einkäufen – Knäckebrot, Äpfel, Briefpapier. Ein getrocknetes Herbstblatt, ein Stück Rinde, das wie ein Gesicht wirkte.
Und, in einem Seitenfach, ein Brief. Die Ränder waren angeschimmelt, aber er war lesbar.
„Liebe Henny,
in Skagen traf ich einen seltsamen Mann mit einem Umhang und hellen Augen. Vielleicht war er auch nur ein Traum, denn im einen Moment war er da, im anderen fort. Er sagte mir: Die Tage sind kostbar! Er hatte recht, ich spüre es. Meine Wandertage sind vorbei, ich ziehe nicht mehr mit den Gänsen und Kranichen, trotz der tiefen Sehnsucht, die sie im Herbst und Frühling in mir wecken. Ich steige auf Bäume, um ihnen nahe zu sein, mich mit ihnen frei zu fühlen, und ich habe ihren Flug mit der Kamera eingefangen, um ein wenig daran teilnehmen zu können. Auch um ihr Wesen, ihre Form zu verstehen und etwas davon wenigstens in meine Skulpturen einfließen zu lassen. Ich habe mein Leben lang das Ende des Windes gesucht; und stattdessen den Anfang gefunden. Er ist genau hier, auf Naurulokki, auf diesem schmalen Stück Land zwischen Meer und Bodden, und jetzt genügt er mir. Ich habe mich entschieden. Nur noch ein paar Tage, ein paar Aufnahmen, dann komme ich zu dir, um zu bleiben, wie du es wolltest. Weißt du noch, der Tag, als du mich darum gebeten hast und ich dir die Holzfrau geschenkt habe? Damals schon hatte ich den dazugehörigen Holzmann fertig, aber ich zögerte. Ich war immer bei dir und auf Naurulokki zuhause, ich wollte es mir nur nicht eingestehen. Seit Simons Tod hatte ich Angst, mich an jemanden zu binden, aber wir beide sind doch längst zusammen. Vielleicht liebe ich Holz deshalb: Es wurzelt in der Erde, lebt dennoch im Wind, kann aber nicht fortfliegen. Es hat mich festgehalten, geerdet, gerettet. Nun tust du es. Lass die Kraniche für mich fliegen, und ich bleibe für dich! Habe nur ein wenig Geduld mit mir. Solange ich nicht da bin, berührt dich das Meer zärtlich in meinem Namen, wenn du abends schwimmen gehst, erzählt dir Geschichten, wenn du es hinter den Dünen rauschen hörst. Aber das weißt du ... In Dänemark verkaufte ein Händler einen Anhänger aus einer Sternschnuppe. Einen kleinen Meteoriten. Das erinnerte mich so an dich und deine Sterne, an die Abende mit dir im Garten, wenn wir im All unterwegs waren, dass ich ihn kaufte und seither trage; ich spüre dann umso mehr, dass du im Geiste bei mir bist. – Ich muss jetzt los, das Abendlicht ausnutzen für die Aufnahmen und dann den Brief einstecken. In ein paar Tagen werden die Kraniche fort sein, dann kündige ich die Wohnung und komme zu dir, spätestens wenn es zu kalt zum Schwimmen geworden ist. Bis bald am Anfang des Winters.
Dein Joram.“
Unter seinen anderen Briefen hatte immer nur Joram gestanden, nie Dein Joram .
Carly faltete den Brief sorgfältig zusammen und legte ihn oben in die weiße Kiste mit den Gräsern drauf, die auf dem Nachttisch stand und in der Notizen und Briefe lagen.
In der Schachtel von der Polizei fand sie die kaputte Videokamera, dann die Uhr. Eine schlichte, elegante Armbanduhr, in deren Mitte ein kleiner Mond auch die Mondphasen anzeigte. Die Uhr war um halb
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