Das Meer in deinem Namen
sie Jakob noch half, das Kabel zusammenzurollen und alles wieder auszustecken, rutschte Anna-Lisa unbekümmert auf Socken herum, die auf dem glatten Boden wie Schlittschuhe funktionierten. Sie nahm Anlauf und sauste mit rudernden Armen durch die offene Tür bis in die Bibliothek. Ein Aufschrei ertönte, dann ein Bums und ein Klappern.
„Anna-Lisa! Hast du dir was getan?“
Carly und Jakob stürmten hinterher.
Anna-Lisa lag mit erschrockenen Augen auf dem Rücken. Neben ihr der Kopf und Hals der Holzgans.
„Bitte nicht böse sein, Carly! Ich bin ausgerutscht und hab mich am Kopf der Gans festgehalten und da hat er sich gedreht und ist abgefallen! Es tut mir leid!“
„Aber das ist doch egal, hast du dir wehgetan?“
Sie rappelte sich auf.
„Nein, alles gut. Papa, kannst du das bitte wieder heil machen?“
„Klar kann er. Komm, wir gehen Kakao machen.“
Jakob hob den abgefallenen Hals auf und betrachtete ihn von unten.
„Das ist nicht kaputt. Das ist ein Gewinde.“ Er versuchte, das Teil wieder in das Loch am Gänsekörper zu drehen, stutzte, drehte es wieder ab und spähte durch die Öffnung.
„Da soll mich doch einer!“ Seine Stimme hallte in dem hölzernen Körper wider, klang seltsam laut und dumpf.
„Was ist?“
„Da liegt was drin. Das ganze Ding ist hohl – natürlich, sonst hätten wir es ja kaum die Treppe raufbekommen. Irgendwo muss noch eine Öffnung sein. Warte“, er steckte seinen langen Arm durch das Loch, tastete.
„Da! Ein Riegel! Unter dem Rücken.“
Ein leises Knacken fiel in die gespannte Stille. Ein großes eckiges Stück aus dem Rücken löste sich sauber. Jakob hob es vorsichtig heraus, legte es beiseite. Er griff mit beiden Händen in den Körper der Gans, nahm eine große, dicke Mappe heraus, blickte einen Moment darauf und reichte sie Carly.
Andächtig nahm sie sie entgegen.
„Hennys Bilder!“, flüsterte sie. Sie wusste es in dem Moment, als sie die Mappe sah.
Ehrfürchtig blätterten sie den dicken Stapel durch. Kreide- und Kohlezeichnungen, Tuschezeichnungen, Aquarelle, manche sogar mit leuchtenden Acrylfarben gemalt. Hennys Begabung sprach aus jedem einzelnen. Der Betrachter wurde sofort auf eine Reise mitgenommen, wie in Jorams Film, nur anders. Man hörte das Meer und den Wind, spürte den Sand unter den Füßen, sah das Licht auf den Wellen glitzern und roch die Nebel auf den Wiesen, begegnete Hirschen und Faltern und Pusteblumen, wanderte zwischen verwitterten Baumskeletten am Strand, und über allem lag eine einsame Melancholie, widersprüchlich gepaart mit einer verführerischen, heiteren Leichtigkeit. Henny eben.
Die Ränder waren weich, verschwommen, wie meist bei Henny, so dass man das Gefühl hatte, die Szenen wären größer als das Papier, auf das die Künstlerin sie gebannt hatte, weit, grenzenlos, verfügbar wenn man nur den einen Schritt hinein machte.
„Das könnte sogar Elisa die Sprache verschlagen“, sagte Jakob schließlich.
„Was glaubst du, was das alles zusammen wert ist?“, fragte Carly.
„Oh – viel. Da musst du Elisa fragen. Ich denke aber, damit könnte dein Professor sein Haus gründlich renovieren und Naurulokki noch dazu.“
Carly sprang auf.
„Ich muss telefonieren! Wie spät ist es?“
„Sehr spät. Ich bringe jetzt Anna-Lisa ins Bett. Und du solltest auch schlafen. Gute Nacht, Carly.“ Er küsste sie auf die Wange. „Wenn du mich brauchst, melde dich, jederzeit!“
Schlafen! Carly war viel zu aufgeregt um zu schlafen. Sie kannte Thore, er kam mit sehr wenig Schlaf aus und saß bis spät in die Nacht am Schreibtisch.
Er hob nach dem ersten Klingeln ab.
„Carly! Ist was passiert?“
Sie erzählte ihm von dem Film und vor allem von dem Fund der Bilder.
„Kannst du es dir jetzt nicht noch einmal überlegen mit dem Verkauf? Die Bilder werden genug einbringen.“
„Du weißt doch, das Geld allein war nicht der Grund. Wir können und wollen kein Haus an der Ostsee behalten. Außerdem ist es zu spät. Ich habe den Kaufvertrag unterschrieben. Ich wollte es dir morgen sagen.“
Carlys Knie wurden weich, sie setzte sich. Blödes Huhn, schalt sie sich, was hast du denn erwartet?
„Ich denke, er wollte es sich erst ansehen? Er kauft ein Haus, einfach so, ohne es zu kennen?“
„Er betrachtet es hauptsächlich als eine Investition. Offenbar gehört er zu denen, die sich schnell entschließen können. Ich bin sehr froh darüber.“
Investition! Was für ein gefühlskaltes, unfreundliches Wort. Das hatte
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