Das Meer in deinem Namen
Naurulokki nicht verdient.
„Kommt er denn gar nicht hierher?“ Sie hatte doch mit dem Mann sprechen wollen. Ihn fragen, ob sie den Garten betreuen konnte. Und ob das mit Tante Alissas Urlaub möglich wäre. Hatte ihm zeigen wollen, welches Fenster klemmte, so dass man vorsichtig damit umgehen musste, und wo die Herbstzeitlosen wuchsen, die man im Frühling nicht versehentlich als Unkraut herausrupfen durfte.
„Hör zu, Carly, ich komme morgen am späten Nachmittag sowieso nach Ahrenshoop. Ich muss zum Grundbuchamt, muss auch die persönliche Unterschrift wegen Joram Grafunder auf der Polizei nachreichen und noch einige andere Dinge regeln. Lass uns alles dann besprechen, ja?“
Carly betrachtete die Bilder. Zu schade. Aber es stimmte, Thore hatte von Anfang an deutlich gesagt, dass er das Haus verkaufen würde. Und selbst wenn er seine Ferien darin verbringen und es den Rest der Zeit an gut zahlende Gäste vermieten würde, was hätte sie davon gehabt? Träume waren nicht das Leben.
Aber wie schön, dass wenigstens von Henny nun so viel mehr blieb. Die Bilder waren ein Schatz. Man könnte einen Bildband herausgeben, Postkarten, Kalender, vor allem eine Ausstellung machen. Am besten sie sprach mit Elisa, bevor Thore morgen kam, dann konnte sie ihm Vorschläge unterbreiten.
Sie schlief auf dem Sofa ein, mit dem Gemälde in der Hand, das ganz unten gelegen hatte und das sie am meisten faszinierte. Die leuchtenden Acrylfarben wirkten dreidimensional, als stünde man im Hafen auf dem Steg. Es war der Steg, auf dem Flömer meist saß. Jetzt, auf dem Bild, war niemand dort. Ein glasklarer Frühherbstabend senkte sich auf den Bodden, zu dem hin sich der Schilfgürtel öffnete. Am Himmel flog fern eine Formation Wildgänse nach Süden. Im ruhigen Wasser spiegelte sich der Himmel mit rosa, goldenen und grauen Wolken; über dem Horizont ein grüner Schimmer. Die Sonne war schon untergegangen; über dem Land hing eine Mondsichel. Was aber die Kraft und das Leben in dem Bild ausmachte, waren die drei Schiffe, die aus ganz verschiedenen Richtungen dem Hafen zustrebten. Ihre Segel blähten sich stolz im Wind, allerdings bog sich kein Baum in eben diesem Wind, kein Schilf, und das Wasser schlug keine Welle. Dieser geheimnisvolle Wind gehörte den Schiffen allein. Das Licht auf dem Wasser spiegelte sich in ihren Segeln und ließ sie silbern wirken; ihre Rümpfe dagegen waren aus Holz in einem warmen, beinahe durchsichtigen Goldton. Eines war ein wenig heller, eines dunkler als das mittlere.
Den Mann, der an einer krummen Kiefer neben dem Steg lehnte, den Blick auf die Schiffe gerichtet, hatte Carly erst ganz zuletzt entdeckt. Er trug einen Umhang und hatte den Arm zum Gruß gehoben.
Kurz ehe sie eindöste, glaubte Carly, zwischen den Wolkenspiegelungen im Wasser Gesichter erkannt zu haben: die ihrer Mutter und ihres Vaters und noch andere, die sie nicht kannte oder deren Namen ihr nicht einfielen.
40. Zwei Briefe
Am Morgen wachte Carly vor der Sonne auf. Alles tat ihr weh von der unbequemen Lage auf der Couch. Sie fühlte sich wie gerädert und doch hellwach.
Sie sammelte die Bilder ein und legte sie in die Mappe zurück bis auf das mit den drei Schiffen, das sie in der Küche neben Nicholas Ronnings Bild von Henny lehnte.
Danach duschte sie, frühstückte hastig und radelte zu Synne und Elisa in die Galerie.
Elisa war tatsächlich für zehn Minuten sprachlos, als sie die Mappe durchblätterte. Synne schniefte vor Rührung und Begeisterung in ein Taschentuch.
„Also eine Ausstellung im Kunstkaten als Allererstes. Kalender, Postkarten, einen Bildband. Machen wir alles! Dein Professor muss nur die Genehmigung unterschreiben.“ Elisa erholte sich schnell.
„Kannst du da was vorbereiten? Er kommt heute noch her. Du könntest die Papiere gegen Abend bei mir vorbeibringen“, schlug Carly vor.
„Aber sicher. Darauf kannst du dich verlassen. Synne, an den Computer, bitte, ich diktiere dir.“
Danach fuhr Carly bei Harry vorbei um ihm die Neuigkeiten zu erzählen und ihm zu sagen, dass sie einiges zu erledigen hatte, ehe sie sich ernsthaft ans Töpfern machen konnte, obwohl die Ideen nur so in ihr brodelten.
Jetzt, da sie hierbleiben wollte, wusste sie, wofür sie arbeitete; nun machte alles einen Sinn.
In ihre Pläne versunken, öffnete sie die Tür zur Töpferwerkstatt und erschrak.
„Harry? Was ist?“
Die Sonne fiel über ihre Schulter genau auf Harrys Gesicht, der an seiner Werkbank saß, ein Papier
Weitere Kostenlose Bücher