Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
Vom Netzwerk:
gewesen.

    Orje fuhr vor und hupte; Carly sprang auf, kletterte in den alten VW-Bus. Orje umarmte sie kurz und herzlich und drückte ihr eine enorme Taschenlampe in die Hand. „Welcher Friedhof?“
    Jetzt brach sie doch in Tränen aus. „Ich weiß es nicht!“
    Orje fischte Taschentücher aus dem Handschuhfach und drückte entschlossen aufs Gaspedal.
    „Ich glaube, darauf kommt es auch nicht an. Nicht bei anonymen Bestattungen.“
    Schweigend fuhren sie durch die menschenleere Stadt. Hier draußen schlief sogar Berlin.
    Es dauerte nicht lange bis zum nächsten Friedhof, der weit und still und grün war. Das heißt, jetzt war er nicht grün, sondern dunkel. Sehr dunkel. Carly fand das wohltuend. Hier konnte sie ihre Traurigkeit nicht so scharf sehen. Über die Taschenlampe waren sie aber doch froh, als sie Friederike aus dem Auto auf den Wagen mit den hohen Rädern schoben und sich auf den Weg machten.
    „Hoffentlich ist nicht abgeschlossen“, murmelte Orje.
    Carly blieb erschrocken stehen. Daran hatte sie nicht gedacht. Orje drückte die schmiedeeiserne Klinke.
    „Mist. Natürlich ist abgeschlossen. Aber das haben wir gleich!“ Er griff sein Friederike-Werkzeug aus dem Rucksack, mit dem er sonst Schrauben nachzog und andere geheimnisvolle Sachen anstellte.
    „Ich will nicht, dass du Ärger bekommst!“, flüsterte Carly.
    „Psst. Teresa hätte es gefallen.“ Orje steckte behutsam etwas in das große Schloss. „Ist doch weit und breit keiner da. Und ich schließe nachher wieder zu.“
    Ja, Teresa hatte leidenschaftlich gerne Krimis gelesen. Nachts in einen Friedhof einzubrechen wäre ganz ihr Ding gewesen.
    Aber die Polizei würde das kaum überzeugen.

    Das Tor öffnete sich mit einem leisen Klick. Orje zielte mit dem Lichtkegel auf einen Wegweiser.
    „Hier lang geht es zu der Stelle für die anonymen Beerdigungen“, sagte er und zeigte auf einen Pfad, der zwischen einer geduckten Kiefer und der Statue einer Frau im Dunkel verschwand. Carly kannte den Friedhof. Und die Statue. Immer wenn sie sie sah, lief ihr ein Gruseln über den Rücken. Im Krieg hatten hier Grabenkämpfe stattgefunden. Die Statue hatte jemand für einen lebendigen Menschen gehalten und von hinten erschossen; das Loch in Herzhöhe mit den aufgerissenen Rändern war deutlich zu sehen.
    Sie fanden die Wiese, die von einem nachdenklichen Engel bewacht wurde, der im letzten harten Winter eine Flügelspitze verloren hatte. Sterne waren heute nicht einmal zu ahnen, aber es fiel kein Regen. Es ging auch kein Wind. Die Nacht hatte die Hitze kaum vertrieben; der Hochsommer klebte vierundzwanzig Stunden am Beton der Stadt und die Friedhofsanlage war zu klein, um sich daraus zu lösen.
    „Wo?“, fragte Orje leise.
    Carly lief hin und her, suchte auf dem gleichförmigen Platz nach einer Stelle, wo sie sich Teresa näher fühlen konnte, und blieb schließlich neben einer einzelnen Margerite stehen, die dem Rasenmäher entkommen war. Teresa hatte Margeriten geliebt. „Hier!“
    Orje schob Friederike zu ihr hin und fummelte am Klavierholzheber herum.
    „Welche Melodie ...?“ Er wusste selbst nicht, warum er so leise sprach, waren sie doch im Begriff, recht laut zu werden.
    Carly stand mit geschlossenen Augen und dachte fest an Teresa, rief ihr dunkles Lachen zurück, das wie ein freundliches Erdbeben war, ihre tiefe Altstimme, wenn sie Geschichten vorlas, das warme Verständnis in ihren Augen und den gutmütig strengen Zeigefinger. Ihre Neugier auf alles, ihre Lebenslust.
    „Nichts Trauriges“, sagte sie entschlossen. „Wir feiern, dass es sie gab! Wie sie war. Dass wir sie kennen durften.“
    „Dann habe ich die richtige Walze eingelegt“, sagte Orje und begann die Kurbel zu drehen, die Friederike einige der alten Berliner Lieder entlockte, die Teresa gern gehört hatte. „Unter Linden“, „In Rixdorf ist Musike“, das Lied von der Krummen Lanke, „Bolle“ und die „Berliner Luft“.
    Nach dem dritten Lied war es Carly, als wäre Teresa ihnen ganz nahe. Und auch, als wäre Teresa nicht allein, sondern als hörten noch andere zu, die hier unter dem Gras im Schatten des alten nachdenklichen Engels namenlos ihren Frieden gefunden hatten.
    Carly weinte, aber die Tränen taten immer weniger weh. Orje drehte die Kurbel gleichmäßig mit der einen Hand; mit der anderen strich er Carly eine feuchte Strähne aus dem Gesicht.
    Wie schon einmal hatte Carly das Gefühl, die vielen Generationen von Orjes, deren warme Hände den abgewetzten

Weitere Kostenlose Bücher