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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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Holzgriff von Friederikes Kurbel gedreht hatten, wären tröstlich anwesend. Vielleicht nahmen sie gerade Teresa in Empfang. Sie musste sogar lächeln über diesen Gedanken.
    „Geschichten dürfen ruhig verrückt sein, wenn sie guttun“, hatte Teresa einmal gesagt.

    Am Ende wechselte Orje mit Carlys Hilfe doch noch die Walze. Er hatte das schwere Ding tatsächlich im Rucksack mitgeschleppt, um zum Abschluss das „Ave Maria“ zu spielen. Jetzt sang er auch dazu, mit seiner klaren, angenehmen Stimme. Zu ihrer eigenen Überraschung stimmte Carly ein.
    Ein lauer Nachtwind kam auf, trieb die Töne und die Worte zwischen den hohen Kiefern zu den Wolken hoch. Es roch nach wilden Himbeeren und Benzin.
    Als das Lied zu Ende war, war es Carly seltsam leicht zumute, und in ihr blieb das Gefühl, dass es irgendwo für Teresa genauso war.
    Orje reichte ihr etwas. „Hier!“ Nun flüsterte er wieder. Er wandte sich ab, um seinen Rucksack aufzusetzen und Friederike startklar zu machen.
    Carly fand eine Kerze und ein Feuerzeug in ihrer Hand. Ach, Orje! Er hatte wirklich an alles gedacht. Sie stellte die Kerze sorgfältig neben die Margerite, nicht zu dicht, und zündete sie behutsam an. Abrahams Rose legte sie sanft daneben.
    Irgendwo in der Ferne schlug ein Hund an.
    „Komm!“, sagte Orje und streckte die Hand nach ihr aus.
    Leise machten sie sich auf den Rückweg. Nur Friederikes Räder knirschten auf dem Sand.
    Orje bekam das Schloss problemlos wieder zu. Vor dem Tor wartete keine Polizei. Offenbar hatte sie außer den Toten niemand gehört.

    Als Orje sie zuhause absetzte, war es drei Uhr morgens. „Ist alles in Ordnung mit dir oder soll ich noch mit reinkommen?“, fragte er.
    „Nein, alles gut. Du musst ja morgen arbeiten. Danke, Orje! Du hast mir so geholfen.“ Sie umarmte ihn fest.

    Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und wartete, bis das Motorengeräusch um die Ecke verschwunden war. Dann zog sie ihn wieder heraus und stieg auf ihr Fahrrad. Sie konnte jetzt nicht ins Bett. Stattdessen radelte sie zur Sternwarte, schloss ihr Rad an und ging den schmalen Weg weiter, der bis ganz nach oben auf den Aussichtspunkt führte. Sowohl Orje als auch Thore wären nicht begeistert davon, dass sie sich im Dunkeln allein herumtrieb, von Tante Alissa ganz zu schweigen. Aber Carly hatte das manches Mal getan. Einmal hatte sie eine ganze Nacht am Grunewaldsee verbracht und beobachtet, was der Mond auf das Wasser zeichnete.
    Jetzt setzte sie sich auf die Wiese und sah auf die Lichter der Stadt, hörte, wie gleichzeitig mit den Vogelstimmen die Motorengeräusche erwachten, sah den Horizont hinter den Zahnreihen aus Gebäudesilhouetten erst grau, dann blau, schließlich silbern und dann golden werden. Es hatte sie immer seltsam berührt, dass dieser Berg aus Trümmern und Müll aufgeschichtet worden war: dass irgendwo unter ihr verbeulte Teekannen schlummerten und die Reste alter Matratzen, auf denen Menschen sich geliebt und geschlafen hatten; Fensterkreuze, durch die jemand in die Wolken geträumt, und Schuhe, die jemand getragen hatte. All diese Bruchteile Leben hatten das Stückchen Erde, auf dem sie saß, dem Himmel ein wenig entgegen gehoben. Sie gaben den Sträuchern, die hier wuchsen, Halt für ihre Wurzeln, und den Teleskopen der Sternwarte einen Standort, obgleich die Stadt um sie herum längst zu groß und hell geworden war, um sie noch wirklich gebrauchen zu können. Aus all den Scherben war ein sicherer Boden unter Carlys Füßen geworden. Dieses Gefühl gab ihr immer wieder Halt.
    Als die Sonne aufgegangen war, fuhr sie nach Hause.

    Auf der Treppe saß jemand. Seine Haltung war ihr so vertraut, dass die alte, verbotene Zärtlichkeit sie schon von Weitem überflutete, ehe sie ihn bewusst erkannt hatte. Thore! Thore, der wusste, wie früh sie immer aufstand, und in keiner Weise darüber erstaunt war, dass sie schon unterwegs war. Thore, von dem sie befürchtet hatte, dass sie in Zukunft so gut wie nichts mehr mit ihm zu tun haben würde.
    Er hielt eine Brötchentüte in der Hand und sein Schnürsenkel war wieder einmal offen. Sein schnelles Lächeln mit der kleinen Zahnlücke oben vertiefte die Schatten in seinen Stirnfalten, die Carly immer wie eine beinahe leserliche Handschrift erschienen waren.
    „Ich möchte dir ein Angebot machen“, sagte er.

5. Eine Frage zum Frühstück
     

    Carly und Thore hatten oft zusammen gefrühstückt, meist in der Sternwarte, und dabei Projekte besprochen oder Seminare geplant.

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