Das Meer in deinem Namen
Seine Frau Rita war Ärztin; sie hatte morgens häufig Dienst in der Klinik. Die Zwillinge schliefen gelegentlich bei Freunden, vor allem jetzt in den Sommerferien. Thore war frühmorgens voller Tatendrang, auch Carly war Frühaufsteherin, und so hatte sich diese Gewohnheit entwickelt.
Allerdings hatte sie nun, da ihre Zusammenarbeit beendet war, nicht damit gerechnet, ihn auf ihrer Türschwelle zu finden.
Sie stellte ihr Fahrrad ab. Als sie sich umdrehte, sah er ihre Augen.
„Was ist los?“, fragte er.
Sie setzte sich neben ihn und erzählte.
Er war immer ein guter Zuhörer. Als sie fertig war, schwieg er eine Weile mit ihr.
„Die Aktion war genau richtig“, sagte er dann. „Besser hättet ihr eine liebe Freundin nicht verabschieden können. Ich wette, sie freut sich da oben über die gute Geschichte!“
Er lachte sein warmes Lachen, tief aus dem Bauch heraus. Niemand hatte sie je so gut trösten können, nicht einmal Orje. Sie hatte immer das Gefühl gehabt: Wenn etwas den Tod und alles Dunkle sicher unter den Teppich bannen konnte, dann war es Thores Lachen.
Auf einmal war der Morgen heller.
Carly raffte sich auf, fand ihren Schlüssel. Kochte Tee, suchte Honig und Käse. Thore nahm ihr das Tablett aus der Hand und brachte es auf den kleinen Tisch im Vorgarten, unter dem alten Apfelbaum.
„Weißt du noch, ich war doch vor einiger Zeit ein paar Tage an der Ostsee“, begann er, während er ihr Tee einschenkte.
„Auf der Beerdigung deiner Cousine?“
„Genau. Henny Badonin. Sie war zwölf Jahre älter als ich. Als Kind und Jugendlicher habe ich mehrmals die Ferien bei ihr verbracht. Es war zauberhaft dort. Sie erzählte mir die tollsten Dinge über die Sterne und das Meer, die Blumen und die Wolken. Mit Kindern konnte sie gut umgehen. Sonst war sie menschenscheu, lebte zurückgezogen allein in ihrem Haus, das sie von ihren Großeltern geerbt hatte. Das letzte Mal war ich Ostern 1961 dort. Dann riegelte die DDR ihre Grenzen ab und wir haben den Kontakt verloren. Nach dem Mauerfall habe ich sie noch einmal besucht. Sie hat sich gefreut, aber ich habe doch gemerkt, dass sie am liebsten allein war. Und nun hat sich herausgestellt, dass sie mich zu ihrem Erben gemacht hat.“
Carly musste lächeln. Wie er das sagte, hörte es sich an, als wäre er von einer Krankheit befallen worden.
„Soso, eine Erbcousine also! Herzlichen Glückwunsch.“
„Das sagst du so. Jetzt haben wir ein altes Haus an der Ostsee, das wohl von oben bis unten mit Kram und alten Möbeln vollgestopft und mit Sicherheit sehr renovierungsbedürftig ist. Es steht da und keiner kümmert sich darum.“
„Könnt ihr es nicht vermieten? An Sommergäste?“
„Nicht in dem Zustand. Und den ganzen Ärger! Dafür haben wir keine Zeit. Mietverträge, Instandhaltung. Da müsste immer wieder jemand vor Ort sein. Wir haben ja schon mit unserem eigenen Haus Sorgen. Im Moment haben wir auch noch die Nilkreuzfahrt gebucht. In einer Woche geht’s los.“
Rita und Thore machten vorzugsweise im Süden Urlaub. Griechenland, Ägypten, Italien. Wenn überhaupt. Carly konnte sich tatsächlich weder Thore noch Rita vorstellen, wie sie in einem kühlen Klima Betten für Gäste bezogen und Rüschenvorhänge bügelten.
„Also verkaufen?“
„So schnell wie möglich. Und da hatte ich die Idee!“
Thore machte eine bedeutsame Pause, schmierte sich ein Brötchen.
Carly schielte besorgt in ihre Teetasse. Thores Ideen waren so gefährlich wie das Leuchten in seinen Augen und das Grübchen in seinem Kinn. Meist kosteten sie Carly eine Menge Zeit und brachten sie dazu, Dinge zu tun, die sie sich nie zugetraut hätte. Übersetzungen, Kongresse, Veröffentlichungen. Allerdings lohnten die sich auch meistens auf ihrem Konto. Und dem ging es gerade gar nicht gut.
„Du brauchst doch einen Job“, sagte er dann auch prompt. „Ich hätte da was zeitlich Begrenztes. Du fährst nach Ahrenshoop, sagen wir, vier Wochen, wohnst in dem Haus, kümmerst dich um den Garten, sichtest alles, was in den Räumen ist, sortierst ein paar Sachen aus, entsorgst zum Beispiel die Kleidung. Packst die persönlichen Papiere zusammen, die du findest. Notierst die schlimmsten Schäden, damit uns ein eventueller Gutachter nicht allzu sehr reinlegen kann. Dann habe ich einen Überblick und entweder lassen wir den Rest entrümpeln oder wir verkaufen es möbliert. Für dich wären es gleichzeitig Ferien an der See. Mal eine Abwechslung. Ist höchste Zeit dafür! Bewerbungen
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