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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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Friederike.

    Ob es die dort auch gab – an der See?
    Am Ende war es das kleine Schiff, das den Ausschlag gab. Es ließ ihr keine Ruhe, immer wieder landete ihr Blick darauf. Sie hatte es in der Küche auf die Fensterbank gestellt. Zu jeder Tagesszeit sah es anders aus. Hell wie der Sommer im Mittagslicht, dann wie im Sturm unterwegs, als ein Wolkenschatten darauf fiel. Später wie in einem Traum, als es die bläuliche Dämmerung einfing. Sie sah es so lange an, dass die Segel nach einer Weile in einem geheimnisvollen Wind zu knattern schienen. Das Schiff trug eine Fracht: ihre alte Sehnsucht nach dem verbotenen Meer, die jetzt mit Macht aus ihrem Inneren aufstieg, wo Carly sie eingeschlossen hatte. Thores Angebot hatte sie geweckt und das kleine Schiff gab ihr Gestalt und Hoffnung.

    Abends klingelte sie bei Ralph. Sie musste ihm zumindest Bescheid sagen. Ein langes Gespräch würde es nicht werden. Sie wusste nie so recht, worüber sie sich mit ihm unterhalten sollte. Carly war sechs gewesen, als Tante Alissa die Kinder zu sich genommen hatte; Ralph vierzehn. Er hatte nicht mehr viel mit seiner kleinen Schwester anzufangen gewusst. Mit achtzehn war er ausgezogen.
    Jetzt hatte er Besuch: eine seiner gepflegten Gesellschaften mit Kollegen von der Bank. Wie immer wirkten er und Christiane in ihrer ganzen imposanten Länge frisch gebügelt und bewegten sich in einer dezenten Wolke aus Rasierwasser und französischem Parfum. Carly krauste unwillkürlich die Nase.
    „Tut mir leid, dass ich ungelegen komme, aber es ist wichtig“, sagte sie.
    „Schon gut, komm in mein Büro“, sagte Ralph mit einem halb belustigten, halb ärgerlichen Blick auf ihre abgetragenen Jeans und ihr T-Shirt mit dem Planetenaufdruck. Er schleuste sie durch das Wohnzimmer, in dem man sich gedämpft über Aktienkurse unterhielt.
    Er stellte sie sogar vor: „Meine Schwester Carlotta, sie hat gerade ihr Astronomie-Studium abgeschlossen.“
    Carly bedankte sich höflich für die gemurmelten Glückwünsche und schob sich hastig in das kleine, ordentliche Büro, nicht ohne sich im Vorbeihuschen einen Teller Häppchen vom Buffet zu angeln. Sie liebte Häppchen: Pumpernickelscheibchen mit Krabben darauf, Oliven, Schafskäse, Cracker mit exotischer Pastete.
    Ralph hörte sich geduldig an, was sie zu sagen hatte. Es beschlich sie der Verdacht, dass er es nicht allzu sehr bedauerte, die Gespräche draußen zu versäumen. Nachdenklich nahm er eine Garnele von ihrem Teller. Für Ralph und Carly waren Krabben, Garnelen und Fisch lange Zeit wie für andere Kinder Schokolade gewesen: selten und besonders. Bei Tante Alissa kam nichts auf den Tisch, das im Entferntesten mit dem Meer in Verbindung gebracht werden konnte. Nicht einmal Fischstäbchen, denen man ihre Herkunft beim besten Willen nicht mehr ansah.
    „Mach es!“, sagte er schließlich.
    Erstaunt sah sie ihn an. Aber er hatte offenbar nicht die Absicht, diesen Rat zu begründen.
    „Aber wenn du mit Tante Alissa telefonierst ... du kannst doch noch weniger schwindeln als ich!“
    „Wenn Tante Alissa mich fragt, ob ich dich gesehen habe und es dir gutgeht, kann ich das wahrheitsgemäß bejahen“, sagte er förmlich. „Sie wird mich nicht fragen, ob du an die Ostsee gefahren bist.“

    Carly war schon wieder am Gartentor, als er ihr nachgelaufen kam. Seine Schritte knirschten auf dem geharkten weißen Kiesweg.
    „Warte!“
    Den polierten Messingknauf schon in der Hand, drehte sie sich überrascht um. Sie hatte gerade darüber nachgedacht, wie erstaunlich es gewesen wäre, wenn Ralphs Tor gequietscht hätte.
    Nun wunderte sie sich noch mehr, denn unvermittelt umarmte er sie fest.
    „Pass auf dich auf, ja?“
    Zu ihrer Verblüffung sah sie Tränen in seinen Augen, die sogar in seinen sauber frisierten Bart überliefen. Sie konnte sich nicht erinnern, ihren Bruder jemals weinen gesehen zu haben. Nicht mal als er sich beim Schlittenfahren das Bein gebrochen hatte. Jetzt, in diesem Moment, erschien es außerdem völlig unangemessen. Wenn das Teleskop von der Sternwarte sich auf seine Stelzfüße gemacht und vor ihrer Haustür aufgetaucht wäre, hätte sie nicht verwunderter sein können.
    Den ganzen Weg nach Hause hatte sie das Gefühl, ein Erdbeben hätte ihre Welt zutiefst erschüttert.

    Sie schlief kaum in dieser Nacht. Dreimal beschloss sie, Thore doch abzusagen, aber wenn sie eindöste, fuhr das glänzende Schiff durch ihre Träume.
    Morgens nahm sie das Telefon mit nach draußen, setzte sich

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