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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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Wurzelstücken zusammengefügt, die aussahen, als wären sie von Wind, Sand und Wasser glatt geschliffen worden. Treibholz, vermutete Carly, die das Meer zwar seit ihrer frühen Kindheit nicht gesehen, wohl aber heimlich Bücher und Bildbände verschlungen hatte. Rechts und links standen Pfosten, die ein kleines Dach mit moosbedeckten Schindeln trugen. Zwei leere Haken hingen davon herab.
    Carly öffnete den schlichten Riegel. Das Tor schwang leicht auf. Sie schloss es sorgfältig hinter sich, zögerte den Moment hinaus, in dem sie dem Haus begegnen würde. Das eine Stück Holz am Tor hatte zwei Astlöcher, die sie wie Augen ansahen. Sie fühlte sich seltsam schüchtern, als wäre sie im Begriff, irgendwo einzudringen.
    Vor ihr führte ein schmaler Sandpfad über ungemähten Rasen einen Hügel hinauf. Links wuchsen drei junge Birken aus einer einzigen gemeinsamen Wurzel. Ein Stück weiter oben rechts vom Pfad neigte sich eine Trauerbirke über eine Bank. Der Pfad endete an einem weiteren Steinwall, der von weißem Hornkraut und blauen und weißen Glockenblumen überwuchert war. Dahinter duckte sich das Haus.
    „Tatsächlich! Ein Reetdach!“ In ihrer Begeisterung hatte Carly es laut gesagt. Erschrocken flog eine Bachstelze aus dem Gras auf.
    Das Dach saß dick und gemütlich auf dem kleinen, länglichen Haus wie eine Glucke auf ihren Eiern. Darunter waren die Hauswände weiß, aber im unteren Teil lugten einzelne Feldsteine aus dem Putz hervor. Die Fensterrahmen und -läden waren von einem ausgeblichenen Grün. Ein paar ausgetretene Holzstufen führten zu einer Loggia, an der ein fast verblühter Blauregen wucherte. Dahinter fand Carly die Haustür, welche die offenbar landesüblichen Schnitzereien trug, die ihr schon unterwegs aufgefallen waren: Oben eine Sonne, unten stilisierte Glockenblumen, und in der Mitte sahen sich zwei Möwenköpfe an. Rechts neben der Haustür hing eine hölzerne Bank an zwei Ketten. Carly starrte sie verzückt an. Das kannte sie nur aus amerikanischen Filmen. Links führte eine kleine Stiege steil aus der Loggia auf eine winzige tiefliegende Terrasse herunter.
    Alles war still, selbst der Nieselregen war lautlos. Carly steckte den Möwenschlüssel ins Schloss, ließ ihre Hand aber wieder sinken. Sie hatte zwar nicht das Gefühl, hier unwillkommen zu sein. Aber ihr war, als wäre sie im Begriff, in eine Geschichte einzugreifen, die nicht die ihre war.
    Sie ließ den Koffer in der Loggia stehen, deren Dach einigermaßen dicht schien, und ging die Stufen wieder hinunter zurück in den Garten.

    Rundum war nichts zu sehen als ein paar Giebel im Grün der Silberpappelwipfel und Kiefern. Ganz hinten war der Himmel silbern am Horizont: ein Schimmer unter dem Grau wie ein Versprechen.
    Dort musste das Meer sein. Doch das Meer konnte warten. Es hatte schon so lange gewartet.
    Sie legte sich auf den Rücken ins Gras, roch die fremde Luft, die nach Zitronenmelisse, Klee, Kiefern und nassem Sand schmeckte und nach etwas anderem, an das ganz dunkel eine Erinnerung in ihr aufstieg. Der kühle Sprühregen auf ihrem Gesicht war ein Segen nach der staubigen, übelriechenden Hitze der Hauptstadt.
    Und die Stille. Eine Stille, wie sie sie noch nie gehört hatte. Einer gewaltigen Welle gleich rollte diese Stille vom Hügel herab über Carly hinweg und in sie hinein, sog die Sorgen, den Lärm, die Trauer der letzten Zeit auf wie Löschpapier, schaffte Raum in ihr für Neues. Einen Augenblick lang durchflog sie Furcht. Der Himmel war so weit, so hoch hier. War sie ganz allein in dieser Stille? Wo waren alle Worte, alle Stimmen, die vielen Schritte auf Asphalt, die Motoren, die Sirenen, das Quietschen der Bremsen? War sie überhaupt noch in der ihr zugedachten Welt? Dieser Hauch, der durch das Gras schlich und für einen Moment die Silberpappeln bewegte, hatte er sie nicht schon in eine Ferne mitgenommen, gewichtslos gemacht, aufgelöst in diesem lockenden, leuchtenden Silbergrau über einem ungekannten Land?
    Doch dann unterbrach ein Laut die Stille, ganz dicht an ihrem Ohr. Die Bachstelze war neben ihr gelandet, flötete mit schiefgelegtem Kopf zwei Töne und flog wieder auf. Carly fühlte die feste Erde in ihrem Rücken, spürte ihr Herzklopfen, erinnerte sich an ihren Körper, als wäre er ihr vorübergehend fremd geworden.
    Sie sprang auf, plötzlich voller Neugier.

    Der Schlüssel drehte sich leicht im Schloss. Ein dämmriger Flur empfing sie, an dessen Ende sie eine Treppe erkennen konnte. Links stand

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