Das Meer in deinem Namen
sitzenlassen, dass sie alles verkauft haben und nach Italien ausgewandert sind. Für dich haben sie, um ihr Gewissen zu beruhigen, das Haus hier gekauft, damit du immer ein Zuhause hast.“
„Ein Zuhause wäre überall gewesen, wo ich euch habe“, hatte Henny geantwortet.
Aber sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Und nun durfte sie dieses Leben mit Nicholas teilen.
„Henrike Ronning. Henrike und Nicholas Ronning, das Künstlerehepaar“, sprach sie laut aus. Es klang gut, fand sie. Ganz in der Ahrenshooper Tradition. Aber sie malte nicht, weil sie in einem Künstlerdorf wohnte, und auch nicht, weil sie sich nach Ruhm sehnte. Sie malte, weil es sie frei machte.
Die Zukunft breitete sich so hell und voller Versprechen vor ihr aus, dass Henny das Gefühl hatte, ihr Glück läge in der Luft wie etwas, das nicht stillhalten konnte. So ein Glück musste unzerstörbare Spuren im Haus hinterlassen, da war sie sich sicher.
Sie stellte es sich als eine Kraft, eine Art Wind vor, einen unsichtbaren Wirbel, der die silbernen Segel des Schiffchens auf dem Nachttisch aufbauschte, raschelnd unter dem Dach umherhuschte, dann aus ihrem Zimmer hinaus durch den Flur fuhr, in das andere Zimmer tanzte und wieder zurück. Sie glaubte nicht, dass diese Kraft je vergehen würde. Sicher wuchs sie mit den Jahren. Vielleicht wäre sie noch da, wenn Henny und Nicholas längst tot waren, und erzählte den Schwalben von ihnen.
Carly
1999
11. Hennys Gewürze
Im nächsten Moment hörte Carly ein ängstliches Zwitschern und Flattern von oben und lachte über sich selbst. Natürlich! Sie hatte nicht das Küchenfenster offen gelassen, sondern das über ihrem Bett. Und vor dem nisteten die Schwalben unter dem Reetdachgiebel.
Carly hatte lange genug Parterre gewohnt, um zu wissen, wie leicht ein Wesen von draußen hereinhuscht. Und wie man sie fängt. Oft waren die frechen Berliner Spatzen in ihrer Küche gelandet.
Verängstigt saß die Schwalbe auf einem Bilderrahmen, blickte wild umher. Zwecklos, mit den Händen nach ihr greifen zu wollen. Carly sah sich suchend um. Der Papierkorb, aus Peddigrohr geflochten, war schwer, zu dunkel, barg Verletzungsgefahr. Ihr fiel etwas ein. Hatte sie nicht ein Seidentuch gesehen, bei ihrem flüchtigen Blick in Hennys Schlafzimmer?
Hastige Bewegungen vermeidend, schlich sie aus dem Zimmer und öffnete Hennys Tür. Ja, da auf dem Stuhl lag das zarte Tuch in Meeresfarben.
Beim ersten Versuch, es über die Schwalbe zu werfen, flüchtete der Vogel, flog gegen die Wand und landete auf der Nachttischlampe. Der zweite Wurf gelang. Durch das Tuch konnte sie den kleinen Körper behutsam greifen. Sie lehnte sich aus dem Fenster und schlug die Zipfel wieder auseinander. Für einen Moment sahen Carly und die Schwalbe einander an, saß der versehentliche Gast still in ihrer Handfläche. Dann ein Schwirren, schon war sie weg, ein eiliger Punkt hoch im Blau unter ihren Weggefährten. Carly war erleichtert; offensichtlich war kein Flügel verletzt.
Sie schüttelte den Seidenschal aus, strich ihn glatt. Nun, da sie damit herumgewedelt hatte, hing auch in diesem Zimmer Hennys Parfum in der Luft. Die Schwalbe war fort und es herrschte tiefe Stille, trotzdem hatte Carly das deutliche Gefühl, nicht allein im Haus zu sein. Die unsichtbare Anwesenheit von Henny, die lautlose Gegenwart von Joram Grafunder waren spürbar, als müsste sie nur einen Schritt in die richtige Richtung machen um ihnen gegenüber zu stehen. Es war unheimlich und eigenartig angenehm zugleich. Carly brachte das Tuch zurück in Hennys Zimmer, sah sich scheu um.
Das Bett war eindeutig Joram Grafunders Werk. Die vier Pfosten schlanke Baumstämme, nicht ganz gerade gewachsen, mit Astlöchern wie Augen und von Wind, Wasser und Sand glatt geschliffen. Die Seitenbretter schlicht, aber ebenso verwittert, mit dem seidigen Schimmer natürlich entstandenen Alters. Joram verwendete offenbar grundsätzlich kein neues Holz.
Neben dem Bett auf einem schlichten Tischchen, das zwar alt, aber sicher nicht selbst gemacht war, lagen zwei Bücher. Zuoberst, aufgeschlagen, „Grashalme“ von Walt Whitman. Ein Buch, von dem auch Carly nie genug bekam. Darunter fand sie zu ihrer Verblüffung „Garp“ von John Irving. Henny musste also durchaus Humor gehabt haben, trotz ihrer Ungeselligkeit und dem ernsten Ton ihrer Notizen.
An der Wand hingen nebeneinander vier gleichgroße Bilder in identischen Rahmen. Sie zeigten das Haus mit
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