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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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einem Stück Garten zu allen Jahreszeiten. Für den Herbst hatte Henny Rötel benutzt, für den Winter Kohlestifte, der Frühling schmeichelte sich in Pastellfarben ein, so leicht und duftig, als könnte er im nächsten Moment verflogen sein. Der Sommer war nachdrücklicher, hier waren die Konturen deutlicher, die Farben tiefer, Kohlestift ergänzte Kreide. Fein und zärtlich wirkten die Bilder; Carly stand lange davor und sehnte sich nach einer eigenen Möglichkeit, sich so ausdrücken zu können. Sie kannte die Sterne beim Namen – aber ändern konnte sie sie nicht, nicht umgestalten und neu zusammenfügen, nicht ihr Wesen herauskitzeln durch eine Farbnuance oder neue Form.
    Henny hatte ihr Haus geliebt, das war eindeutig. Mit Ehrfurcht, nicht mit Besitzerstolz; sie hatte es portraitiert wie einen nahestehenden Menschen. Carly dachte an Hennys Satz auf dem Zettel:
    „Joram, Naurulokki und ich sind wie Wega, Atair und Deneb. Ein harmonisches, ausgewogenes Zusammenspiel; trotz der unabänderlichen Distanz zwischen uns. Wir ergänzen uns, erzeugen ein Leuchten ...“
    Unter dem Nachttisch stand ein weißer Pappkarton. Henny hatte mit grünem Filzstift ein paar einzelne Gräser an die Seite gezeichnet. Der Deckel lag lose und schief darauf. Carly nahm ihn ab, sah, dass der Karton voller Zettel war. Sie nahm den obersten heraus, er war wieder von dem „Rheumolin“-Block abgerissen.
    „Joram ist flüchtig wie die Schwalben, immer unruhig, innerlich nur auf der Durchreise. Wenn er hier ist, bei mir auf Naurulokki, ist er völlig da, für den Moment, fühlt sich auch angekommen, glaube ich. Doch er bleibt nicht. Er schlägt keine Wurzeln. Nicht hier, und ich weiß nicht, ob im Leben überhaupt. Ich hebe alles auf, was er schreibt, um mir später einmal beweisen zu können, dass er da war. Ich lege seine Spuren im Haus, falls meine eigene Vergesslichkeit schlimmer wird. Ich will ihm begegnen, auch wenn er nicht da ist. Er tut dasselbe, indem er mir Möbel bringt aus einem Holz, das schon Stürme und Untergang überstanden hat. Er gestaltet das Haus mit. In seiner eigenen Wohnung hat er fast nichts, aber er will trotz allem, dass etwas von ihm bleibt. Aber es sind nicht nur die Dinge, sondern auch seine Worte, die ich festhalten will. Irgendwann wird er nicht wiederkommen.“

    Carly war unbehaglich. Es gehörte sich nicht, anderer Leute Tagebuch zu lesen, und das hier war so etwas Ähnliches. Mit den Zetteln, die offen im Haus herumlagen, war es etwas anderes. Hastig schloss sie den Karton und schob ihn zurück. Sie würde sich zwar irgendwann damit befassen müssen, aber nicht jetzt. Nicht ohne Rücksprache mit Thore.
    Thore – warum war er nicht hier? Nur kurz, ein Wortwechsel, ein Lachen, und alles wäre wieder hell und leicht. Sie wünschte sich in sein Seminar zurück. Oft hatte er hinter ihr gestanden, wenn er zu den Studenten sprach; so konnte sie ihm die nötigen Bücher reichen. Zwischendurch neigte er sich dabei vor, um dem Publikum näher zu sein, und legte dabei den Finger in ihre Armbeuge, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen oder als wäre sie ein Thermometer, an dem er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer ablesen konnte. Es war eine Angewohnheit, er merkte es nicht einmal. Carly spürte diese Berührung in den eigenartigsten Augenblicken immer noch. Doch Thore war weit, und auch Joram und Henny, so unsichtbar anwesend sie auch waren, nahmen Carly nicht zur Kenntnis.
    An der anderen Wand fiel ihr ein Gemälde auf, dunkel, offenbar alt. Es zeigte einen Leuchtturm in einer stürmischen Vollmondnacht und war mit dem Namen „Cord Kreyhenibbe“ signiert. Eine seltsame, abenteuerlustige Atmosphäre strahlte es aus. Das hätte sie auch gerne an der Wand gehabt, als Kind. Aber wenn Tante Alissa schon bei dem harmlosen Segelschiff so entsetzt gewesen war, was hätte sie wohl zu so einem Sturm gesagt?
    Auf der Fensterbank stand eine Frau, aus einem Stück Treibholz, so lang wie Carlys Unterarm. Helles Holz, glattgeschliffen von Wind und Wellen, mit dunklen Maserungen, die mit wenigen Strichen ergänzt worden waren. Hier und da war der Form mit einer behutsamen Kerbe nachgeholfen worden. Die Frau stand aufrecht, in Kleid und Umhang, leicht vorgebeugt wie gegen den Wind, und sah in den Himmel. Sie war so ausdrucksvoll, dass Carly sie lange ansah, sanft mit dem Finger über die seidige Oberfläche strich. Die Figur wirkte würdevoll und einsam.
    Carly fuhr zusammen, als sie schließlich auf die Uhr sah; sie

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