Das Meer in deinem Namen
was vor ihr lag.
Aber jetzt war sie erwachsen und verlobt und begann sich selbst einen Namen als Künstlerin zu machen. Beruflich sah sie Cord Kreyhenibbe als ihren Paten an.
Die feuchte Nachtluft trieb den Duft nach Meer und Frühsommer durch das offene Fenster. Unter dem Giebel begannen sich die Schwalben zu regen. Sie waren kurz vor dem Flüggewerden. Wie das wohl war, wenn man auf unerfahrenen Schwingen den allerersten Flug wagte, sich in die klare Luft stürzte, wagemutig ins Ungewisse, mit dem uralten Wissen, fliegen zu können, weil man dafür geboren war?
Gewiss so wie sie sich jedes Mal fühlte, wenn sie einen Pastellstift oder ein Stück Kreide in die Hand nahm oder auch einen Pinsel. Egal, wenn sich damit nur die Bilder auf das Papier zaubern ließen, die sie festhalten wollte für die Ewigkeit. Bilder, die den Betrachtern zeigen sollten, wie Henny ihre Welt sah, die sie so faszinierte. Sie las Dinge in den Wolken und den endlos wechselnden Farbströmungen auf dem Meer, die sonst niemand sah wie sie. Auf ihren Bildern machte sie das den Betrachtern zum Geschenk.
Gestern hatte sie wieder zwei Bilder verkauft, auf einem Kunstmarkt in Zingst. Vielleicht würde sie Nicholas doch die Reise zur Hochzeit schenken können, nach der er sich sehnte. Es würde ihn aufheitern. Er war so schwermütig in letzter Zeit. Aber Henny war zuversichtlich, dass sich das ändern würde, wenn sie erst einmal verheiratet waren. Bald war es so weit! Myra hatte ihr gestern das Kleid anprobiert. Wo sie den schimmernden hellen Stoff aufgetrieben hatte, wollte sie nicht verraten, wahrscheinlich wieder bei einem leicht dubiosen Tauschhandel. Henny fragte besser nicht nach. Sie wollte ihre Freude über Myras Kunstwerk nicht trüben. Myra konnte wundervoll nähen. Schlicht und elegant war das Kleid und trotzdem hatte es eine fröhliche Leichtigkeit, die zu Henny passte, und ein paar dezent in den Gürtel und an den Armen eingeflochtene Bänder im Rotbraun von Hennys langen Locken und dem Grün ihrer Augen. Unten am Saum waren mit feinem Garn zarte Muscheln eingestickt und oben auf den Schultern einige fliegende Möwen. Henny konnte nicht erwarten, es für Nicholas zu tragen.
Sie würde ihn im Garten heiraten – oder doch am Strand? – und er würde hier einziehen, in das Haus, das sie so liebte und das jetzt ganz ihr gehörte. Sicher würde Opa Winfried zur Hochzeit kommen. Zum Glück hatte er es nie bereut, dass er nach Oma Matildas Tod zurück in seine Heimat gezogen war und Henny das Haus überschrieben hatte.
„Eigentlich gehört es ja sowieso dir, Mädchen. War schließlich ein Geschenk von deinen anderen Großeltern“, hatte er gesagt, etwas widerwillig. Er sprach nicht gern von damals. Warum? Henny neigte zu der Ansicht, dass ihr Vater, dieser berüchtigte Hendrik Badonin, ihr einen großen Gefallen getan hatte indem er sich aus dem Staub gemacht hatte, als seine Frau bei Hennys Geburt starb. Sie konnte sich keine besseren Eltern vorstellen als Winfried und Matilda. Sie waren herzlich, heiter und lebendig, und der einzige Unterschied, den Henny zu anderen Kindern spürte, war, dass sie Oma und Opa sagen musste.
„Wir wollen nie vergessen, dass es die Susanne gegeben hat“, sagte Oma Matilda, wenn Henny sie darauf ansprach. Es gab auch noch Tante Simone, aber die lebte in Dänemark. Als Henny dreizehn war, kam Simone zu Besuch, um Opa und Oma ihr Baby zu zeigen, den kleinen Thore. Henny war hingerissen von dem Wesen, das im Kinderwagen unter der jungen Trauerbirke lag und sie glucksend aus dunklen Augen anblinzelte. Tante Simone redete als Einzige über Hennys Vater und ließ kein gutes Haar an ihm.
„Der Hendrik wollte halt schon immer in einer Großstadt leben. Er hielt sich für einen Künstler, aber seine Bilder waren völlig talentfrei“, hatte Oma Matilda daraufhin erklärt. „Ich glaube auch nicht, dass er deine Mutter wirklich heiraten wollte. Er war viel zu unstet und lebenslustig. Aber seine Eltern, die hatten ein vornehmes Hotel in Zingst und wollten, dass ihr Kronensohn einen Erben zeugt. Sie haben ihn unter Druck gesetzt. Als du geboren wurdest, fand er, er hätte genug getan, und hat sich abgesetzt. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört bis auf ein Gerücht, dass er im Krieg umgekommen ist, in Dresden wohl. Die alten Badonins waren heilfroh, dass wir dich großziehen wollten. Sie waren so wütend auf ihren Sohn, weil er nur ein Mädchen gezeugt hatte und vor allem, weil er sie mit dem Betrieb hat
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