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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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seines bleiben.“
    Die Gans war aus hellem und dunklem Holz zusammengefügt; es war die gleiche Technik wie bei dem Kreisel. Gleichzeitig streckten Carly und Jakob eine Hand aus, um behutsam über die glatte Oberfläche zu streichen. Staub flog auf.
    „Die darf hier unten nicht vergammeln“, sagte Carly entschieden.
    „Henny wollte sie nicht benutzen, weil sie sie doch für Joram aufgehoben hat“, sagte Anna-Lisa von der Treppe her. „Da seid ihr also. Ich hab euch von draußen durch die Luke gehört.“
    Sie kam herunter und strich der Gans zärtlich über den Hals.
    „Joram und ich wollten immer, dass sie sie benutzt. Sie ist nicht nur als Figur gedacht. Man kann drauf sitzen, seht ihr, so ...“ Sie setzte sich rittlings auf den Rücken des beeindruckenden Vogels, legte die Hände auf dessen Kopf und stützte ihr Kinn darauf. „So kann man gut nachdenken, oder man sitzt so, zum Träumen“ – sie drehte sich um, lehnte sich bequem gegen den Hals und stützte die Füße auf die Schwanzfedern, „oder so“, sie lehnte sich gegen den einen halb erhobenen Flügel und legte die Beine auf den anderen; nun war es fast wie in einer Hängematte, „so kann man sich gut ausruhen.“
    „Ein geniales Design“, staunte Jakob.
    „Wir bringen sie hoch, ja?“ Carly hob den Schwanz versuchsweise an. „Zum Glück ist das ziemlich leichtes Holz.“
    Jakob fasste die Gans am Hals. „Na, dann. Vorsichtig.“
    Sperrig war das Wunderwerk, aber Stück für Stück bugsierten sie es mit viel Manövrieren zu dritt die enge Stiege hoch.
    „Ist ja wohl runtergekommen“, schnaufte Jakob, „dann kommt sie auch wieder hoch.“
    Schließlich stand die Gans unverletzt im Flur, wo sie noch größer wirkte als im Keller.
    „Hier kann sie nicht bleiben, da kommt keiner vorbei“, stellte Jakob fest. „Überlegt euch was, ich hole noch die muffige Plane und die Mülltüte rauf.“
    Carly sah sich im Wohnzimmer um.
    „Hier wäre Platz. Hier ist es eigentlich ziemlich kahl.“
    „Nee.“ Anna-Lisa schüttelte heftig den Kopf. „Die muss in die Bibliothek. Zu den Büchern. Da haben Henny und Joram am liebsten gesessen. Und dann kann man da gleich drauf sitzen und lesen.“
    „Das wird aber ziemlich eng.“
    „Wir könnten den kleinen Tisch da rüber ins Wohnzimmer stellen, dann ist hier Platz. Zwei Tische braucht man hier nicht!“
    „Ich glaube, du könntest meinen Job besser erledigen als ich. Das Haus aufräumen, meine ich“, sagte Carly, während sie das Tischchen aus der Bibliothek evakuierten.
    „Ich kann dir ja helfen. Papa, komm, die Gans soll hier hin!“
    Schließlich hatten sie die neu entdeckte Mitbewohnerin in der Ecke vor ein Bücherregal platziert, wo sie aus dem Fenster schauen konnte.
    „Ehe sie in den Keller kam, haben Joram und ich beide da drauf gesessen und er hat mir vorgelesen“, sagte Anna-Lisa traurig.
    „Das kann ich auch“, behauptete Jakob, nahm auf dem breiten Gänserücken Platz und zog Anna-Lisa auf seinen Schoß. „Gib mir ein Buch!“
    Erfreut beugte sie sich vor und zog ein schmales Bändchen aus dem Regal. „Das hier, bitte!“
    William Saroyan, „Ich heiße Aram“. Lange her, seit Carly das gelesen hatte, aber sie hatte es geliebt.
    Während Anna-Lisa sich zwischen den Flügeln der hölzernen Gans genussvoll gegen Jakob lehnte, rollte sie sich auf dem Sessel zusammen und lauschte auch. Er las von dem Großvater und seinem Enkel, die mitten in einer Wüste Granatäpfel anbauten. Sie kämpften einen aussichtslosen Kampf gegen Dürre und Schädlinge und verloren dabei ihre Ersparnisse, aber schließlich ernteten sie einige Granatäpfel. Es war ihr Traum gewesen, und sie hatten ihn sich erfüllt.
    Während Jakob las, schien es Carly, als verlöre seine Stimme an Tiefe. Plötzlich war es Thore, den sie hörte. Thore, der so oft am Ende eines Seminars eine Geschichte vorgelesen hatte. Dann aber war es auf einmal Tante Alissas Stimme in ihrem Ohr, Tante Alissa, die tapfer aus der Archäologischen Zeitschrift vorlas, von Königsgräbern und Mumien, denn Kinderbücher hatte sie nicht und hielt auch nichts davon. Und schließlich war es die Stimme ihres Vaters, die sie gestern am Strand gehört und bis dahin vergessen geglaubt hatte. Sie war wieder da, deutlich, irgendwo zwischen Thores hellerer und Jakobs tiefdunkler. Von Segelschiffen las er und von einem frierenden Wassermann.

    „So!“ Jakob stand auf und scheuchte mit einer entschiedenen Bewegung die Erinnerungen zwischen die Bücher.

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