Das Meer in deinem Namen
fiel ihr das pferdeähnliche Stück Treibholz in die Hand, das Anna-Lisa ihr geschenkt hatte. Nachdenklich drehte sie es hin und her. Da fehlte einfach etwas. Sie hielt das Stück Rinde daran, das ihr unterwegs vor die Füße geweht war. Ja! Sie stöberte auf dem vollgekramten Tisch in der Küchenecke, mit dem sie sich noch nicht weiter befasst hatte. Wie sie vermutet hatte, hatte Henny hier offenbar ihre Kerzen gegossen und ähnliche Arbeiten verrichtet. In dem Durcheinander fand sie Bindfaden und Wachsreste. Beides benutzte sie, um das Rindenstück am Holz zu befestigen.
Perfekt! Pegasus! Jetzt passte es. Sie knüpfte die Figur an der Lampe fest, so dass sie fröhlich mitten in der Küche schwebte. Anna-Lisa würde es gefallen.
Hmm, eigentlich sollte sie hier aufräumen und nicht weiteren Unsinn stiften. Wahrscheinlich lag es an Daniels Tee. „Sandspuren“ schmeckte ausgezeichnet. Das rätselhafte Gewürz darin oder auch der beerige Geschmack nach Sommerwäldern und Unbekümmertheit machten offenbar übermütig. Sie hätte auch das Kissen nicht kaufen dürfen. Sie sollte das Haus bestimmt nicht noch voller machen. Aber wenn es möbliert vermietet würde, steigerte das Kissen ja gewissermaßen den Wert. Oder sie konnte es mit nach Berlin nehmen. Als Andenken.
Beim Gedanken an die Stadt rümpfte sie unwillkürlich die Nase. „Zurück zu was?“, hallte Daniels Stimme in ihr nach.
Unter ihrer Sohle klebte es. Sie bückte sich, bemerkte, dass sie Rinden- und Wachskrümel verstreut hatte. Unter dem Tisch lag noch etwas. Ein Zettel! Hennys Handschrift unter dem gewohnten „Rheumolin“-Werbeaufdruck. Erfreut goss Carly sich noch eine Tasse „Sandspuren“ ein und nahm Tee, Zettel und das neue Kissen mit in die Bibliothek. Dort machte sie es sich auf Jorams Wildgans bequem. Das Kissen war dabei sehr nützlich, ergänzte den hölzernen Rücken zu einem ausnehmend bequemen Sitz. Nach dem Putzen und der Fahrradtour tat es gut, die Füße hochzulegen.
„Ich habe eine Muschel gefunden“, sprachen Hennys Worte lautlos von dem Papier in ihrer Hand. Carly nahm einen tiefen Schluck. In der abendlichen einsamen Stille in der kleinen Bibliothek waren Hennys Gedanken so nahe, so lebendig. Henny war nicht mehr da, aber was ihr durch den Kopf gegangen war, verlor dadurch nicht an Gültigkeit.
Ich werde ihr Grab besuchen, nahm sich Carly vor, gleich morgen, ihr Blumen bringen.
„Aber diese Muschel ist nicht nur irgendeine Muschel“, schrieb Henny . „Es ist eine Miesmuschel, wie die unzähligen, über die wir achtlos am Strand gelaufen sind. Die unter unseren Füßen zerbrochen sind. Oder in der Brandung. Oder an der Zukunft. Aber diese hier ist größer; sie muss stärker gewesen sein als die anderen und ein beachtliches Alter erreicht haben. Ihre Oberfläche trägt einen ungewöhnlichen, tiefen und wechselvollen blauen Schimmer, wie der Himmel zu unserer liebsten Tageszeit, in der Abenddämmerung. Du sagtest einmal, diese Stunde wäre ein Spalt zwischen den Welten, der es einem erlaubt, sich hindurchzumogeln. Ich weiß nicht, in welche Welt du dich gemogelt hast, auf was für einer Reise du bist, aber für mich ist die Muschel ein Brief von dir. Die Röhrenwürmer haben diese Zeichen darauf geschrieben, die deiner Handschrift ähnlich sehen, jedenfalls in der Dämmerung. Natürlich kann ich sie nicht lesen, doch darum geht es nicht. Auf diese Weise gibt mir das Meer in deinem Namen zu verstehen, dass du nicht fort bist: nicht so weit fort, als dass du mir nicht noch nahe bist. Ich spüre deutlich dein Wesen, deine Gegenwart, wenn ich diese Muschel ansehe.“
Deshalb also hatte Henny an ihrem Todestag diese Muschel in der Hand gehalten: weil sie zu ihr von Joram sprach. Wahrscheinlich hatte sie oft so gesessen, hatte gespürt, wie die Schale warm wurde in ihrer Hand.
Das Meer in Jorams Namen!
Hatte das Meer ihr, Carly, nicht auch in ihres Vaters Namen seine Stimme wiedergegeben? „Flieg, Fischchen!“ und die Geschichte vom frierenden Wassermann ...
Und sie traute sich noch nicht einmal, dem Meer ins Auge zu sehen.
Das musste sich ändern!
Die Stille war auf einmal bedrückend. Sie holte ihren Computer, schaltete ein. Orje hatte einen Kommentar auf ihrem Blog hinterlassen. Miriam auch.
„Es ist langweilig ohne dich. Orje ist langweilig ohne dich“, schrieb sie. „Wahrscheinlich werde ich auch bald verreisen, warum sollst nur du etwas erleben. Abenteuer, komplett mit Toten und Verschwundenen! Mal sehen,
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