Das Meer in deinem Namen
vielleicht hole ich unser altes Zelt aus dem Keller, schnappe mir irgendwen und fahre mal wieder nach Dänemark. Was meinst du, dieser schnuckelige Student, Julius hieß der, wär der nicht für so was zu haben ...?“
Carly schüttelte lächelnd den Kopf. So war Miriam eben. Sollte sie sich irgendwann für einen bestimmten Mann entscheiden, würde dem bestimmt nicht langweilig.
In Orjes Kommentar lag mehr Ernst.
„Berlin ist noch grauer ohne dich. So viel Musik kann ich gar nicht machen, um das auszugleichen. Wie soll ich schlafen, wenn ich weiß, dass niemand mich mit einem unlösbaren Problem aus dem Bett klingelt oder einer nicht zu bewältigenden Portion Nudelsalat vor der Tür steht? Aber ich lese aus deinen Worten, dass Naurulokki dir guttut. Es klingt nach einem hellen, luftigen Ort, der manches leichter machen könnte. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Was hast du heute gemacht? Wer ist dir begegnet? Was hast du gefunden?“
Ach, Orje, Wahlbruder, bester Freund und Vertrauter! Auch seine virtuelle Gegenwart tat wohl.
Sie startete einen neuen Artikel und wusste dann doch nicht, womit sie den füllen sollte. Sie mochte Orje nicht erzählen, dass sie Jakobs Fischermütze trug, und nichts von Daniels rührend hochstehendem Haarbüschel. Nicht davon, dass jeder Baum, der im Wind gestikulierte, zu ihr von Thore sprach. Auch nicht, dass sie ein Kissen für Naurulokki mit einem Gefühl der Befriedigung gekauft hatte, als ob sie sich dort für die Ewigkeit einrichten wollte.
„Anna-Lisa ist ein Lichtblick. Wir haben viel Spaß gehabt und dabei alles blank geputzt. Aber es ist nur der Staub weg. Es ist weiterhin alles voller Gedanken“ , schrieb sie stattdessen. „Jorams und Hennys, ganz lebendig. Und die Fragen, die man hier unter keinem Teppich einsperren kann, flattern frei herum wie Fledermäuse, in unsichtbaren Schwärmen, kriegen sich in die Haare und stoßen sich die Köpfe an der Decke. Ich kann sie nicht einfach mit einem Seidentuch einfangen und an die Luft setzen wie die Schwalbe.
Ich habe die Stimme meines Vaters wiedergefunden, und die geistert nun herum und sucht nach der meiner Mutter. Und ich war noch immer nicht bei Tag am Meer. Den richtigen Tag dafür muss ich noch suchen ... genau wie die Bilder, die Henny irgendwo versteckt haben muss. Ich bin mir sicher, dass sie noch mehr gemalt hat als die paar, die hier an den Wänden hängen. Laut Synne hat sie ganz wenige verkauft, nur wenn sie Geld brauchte.“
Carly schloss den Computer. Da war noch etwas, das ihr keine Ruhe ließ.
„Das Meer gibt nicht alles zurück“, hatte Daniel gesagt und nicht geahnt, wie viel diese Wahrheit, so alt wie die Seefahrt, mit ihrem Leben zu tun hatte.
Wenn Joram wirklich ertrunken war, dann würde das vielleicht zum Teil erklären, warum sie sich Henny so nahe fühlte.
Umso mehr, wusste sie plötzlich, musste sie herausfinden, was mit Joram geschehen war. Um Hennys willen. Um Jorams willen. Und für sich selbst.
Irgendwo musste sie anfangen mit dem Beantworten der teppichlosen Fledermausfragen.
16. Geheimnisse
Der Wind hatte die Regenwolken mit sich genommen, in die Richtung, in die nach Anna-Lisas Überzeugung Joram mit ihm auf Reisen gegangen war. Warm und freundlich wartete der Morgen im Garten. Carly hatte eine Thermoskanne mit „Küstensturm“ gefüllt, dem Tee, den Henny am liebsten getrunken hatte, und sie zusammen mit einem Käsebrot im Fahrradkorb verstaut, nebst einer offenbar selbstgekneteten Kerze, die sie auf dem Küchenwerktisch gefunden hatte. Jetzt schnitt sie taufeuchte Blumen: Staudenglockenblumen, weißen Phlox, Eisenhut, frühe Astern, späte Margeriten. Sommerflieder, Dahlien. Dazwischen zarte Gräser und Farne.
Sie hätte die paar hundert Meter zur Kirche auch zu Fuß gehen können, aber sie hatte sich mit Hennys Fahrrad „Albireo“ angefreundet. Auf ihm wehte ihr die frische, saubere Luft so angenehm um die Nase. Sie schloss Albireo an einem Laternenpfahl an, öffnete die niedrige schmiedeeiserne Pforte. Steinplatten führten zum Kirchenportal. Zu ihrem Erstaunen las sie Namen darauf. „Claas Olufsen“, „Friederijke Hegemeier “. Verwittert, aber noch gut erkennbar. Hier hatte man alte Grabsteine für den Fußweg verwendet! Wahrscheinlich waren die Steine so knapp auf der schmalen Halbinsel. Es berührte sie unangenehm, darauf zu treten. Sie verließ den Weg, spazierte um die Kirche herum. Dahinter fand sie die Gräber. Der Friedhof war winzig; nach den
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