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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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wir nichts ...“
    Wega, Atair und Deneb, das Sommerdreieck, hell in der weiten Schwärze des Himmels.
    Allein sind wir nichts ...
    Wie allein musste Henny gewesen sein ohne Joram. Aber sie hatte noch Naurulokki gehabt und das Echo von Jorams Gegenwart. Sie hatte seine Nähe gespürt, obwohl er nicht mehr da war.
    So wie Carly die Stimme ihres Vaters gehört hatte.

    Die Kerze in ihrer Tasche duftete nach Bienenwachs und Honig. Neben allen Grabsteinen standen Windlichter für die Kerzen, keine Flamme hätte dem Seewind ohne diesen Schutz standgehalten. Carly nahm den Deckel hoch und entfernte ein altes, abgebranntes Licht.
    Darunter lag ein Zettel! Sie zögerte, nahm ihn dann heraus. Gab es ein Postgeheimnis für Tote? Aber sie hatte ja alle anderen Zettel auch gelesen. Und wenn dieser von Joram war, dann musste sie es wissen. Dann lebte er noch.
    Doch es war nicht Jorams Schrift, sie sah völlig anders aus. Es war auch kein Zettel, es war ein ganzer Brief.
    „Liebste Henny, ich habe einen furchtbaren, gnadenlosen Fehler gemacht, damals, vor so langer Zeit. All diese Zeit hätte uns gehören können! Doch ich konnte nicht anders. Aber du sollst wissen, dass du in allen Bildern warst, die ich seitdem gemalt habe. Wenn Menschen darin vorkamen, war es jedes einzelne Mal dein Gesicht, deine Silhouette, dein Schatten. Das waren die einzigen Bilder, die gut waren, die lebten und ein Publikum ansprachen. Meine Landschaften, selbst Abstraktes: handwerklich ausgezeichnet, aber es blieb alles kalt, berührte niemanden. Das ist und bleibt meine Strafe. Auch diese Insel, die mir noch und wieder Heimat sein sollte, ist fremd ohne dich. Unerträglich! Alles verschließt sich, auch der Blick. Ich kehre zurück in mein Exil und werde jämmerlich genug sein, um weiterhin dein Lächeln und die alten Träume in deinen Augen zu malen und zu verkaufen, damit ich meine Miete bezahlen kann, denn ich tauge für nichts anderes ... und das, obwohl ich weiß, dass es dich anekeln würde, wenn du wüsstest, dass du in immer mehr amerikanischen Wohnzimmern hängst. Andere Frauen würden sich geehrt fühlen, doch du hattest nie auch nur einen Anflug von Eitelkeit. Ganz im Gegensatz zu mir. Du kannst froh sein, dass du mich früh genug losgeworden bist, und ich hoffe, du bist glücklich gewesen. Ich habe nicht gewagt, Myra danach zu fragen ...
    Weißt du noch, früher, als wir – oder war es nur ich? – davon geträumt haben, in den Süden zu reisen, da habe ich dir versprochen, die Schönste aller Muscheln für dich zu finden. Inzwischen war ich an vielen Stränden und habe die großartigsten Muscheln gefunden. Aber heute, als ich wieder hier an unserem Strand war nach so vielen Jahren, habe ich diese blaue Miesmuschel gefunden und festgestellt, dass es für mich keine schönere gibt. Sie trägt die Farben unseres Himmels, wenn es Abend wird. In ihr braust die Musik unseres Meeres. Nun löse ich – zu spät – wenigstens ein Versprechen ein, das ich dir gegeben habe, und schenke sie dir.
    Nicholas.“

    Carly schluckte. Ihre Hand zitterte, als sie den Zettel wieder zusammenfaltete und zurück in das Windlicht legte. Sie stellte den kleinen schmiedeeisernen Teller darauf und die Kerze, zündete sie an. In der hellen Sonne war die Flamme kaum zu sehen.
    Henny hatte Nicholas erwähnt, in einer ihrer Notizen. „Niemand kennt mich so gut wie Joram. – Ob es wohl mit Nicholas eines Tages auch so gewesen wäre?“

    Nachdenklich schlenderte Carly die Grabreihen entlang. Sie hatte so viel anderes zu tun, aber es war schwer, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, wenn die Vergangenheit Briefe schrieb.
    Der letzte Stein fing aus dem Augenwinkel ihre Aufmerksamkeit. Er war alt, dunkel, stand schief und halb verweht im Sand. Das Grab daneben war schon aufgegeben worden. Kamille und verwilderte Margerite wucherten auf beiden, zusammen mit Brennnesseln und Wegerich. In den Buchstaben wuchs Flechte, doch sie waren noch deutlich.
    Simon Grafunder.
    Ohne Jahreszahlen.
    Wer war Simon Grafunder?
    Hätte sie eine zweite Kerze gehabt, hätte Carly sie gerne hier angezündet. So zog sie nur die Brennnesseln heraus, entfernte ein paar braune Blätter und eine Kaugummihülle und richtete die Margeriten auf.

    Die Kirche war offen. Sie war klein und ungewöhnlich gebaut, in der Form eines umgedrehten Kahns, geschützt von einem Reetdach. Schifferkirche hieß sie denn auch schlicht. Leise trat Carly ein. Seltsam geborgen fühlte sie sich in dem hölzernen

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