Das Meer in deinem Namen
weitläufigen Berliner Friedhöfen erschien er wie ein unvollständiges Bild. Die wenigen neueren Gräber entdeckte sie in der hinteren östlichen Ecke, wo der Lichtkegel der Morgensonne in die Reihen fiel.
Henrike „Henny“ Badonin. Ein schlichter unbehauener Naturstein inmitten von Lavendel, blauen Astern und weißer Akelei.
Carly stand eine Weile davor, fast schüchtern. Es war merkwürdig, dass sie in Hennys Haus wohnte, darin umräumte, über ihre Sachen entschied, und das alles, ohne sie gekannt zu haben. Ungehörig! Aber so war es nun einmal. Und es ging etwas sehr Freundliches von dem Grab aus. Sie hatte nicht das Gefühl, dass Henny über ihren Besuch verärgert wäre. Im Gegenteil. Schließlich legte sie behutsam den Strauß vor den Stein.
„Aus deinem Garten“, sagte sie.
Vorn neben der Akelei lag ein runder Findling, auf den sie sich nach kurzem Zögern setzte, um ihr Brot zu essen.
„Der Morgen ist so schön, ich musste raus“, erklärte sie, „und da dachte ich, ich frühstücke mit dir. Dann sind wir uns vielleicht nicht mehr so fremd und es macht nichts, dass ich deine Kleider trage.“ Sicherheitshalber sah sie sich um, ob auch niemand zuhörte, doch sie war allein mit der Stille und den Toten, und der einzige vorhandene Teppich bestand aus den Grasbüscheln, die sich an den unbeständigen Sandboden klammerten. Der Tee schmeckte nach Holz, Beeren, Honig und Wiese, passte zu Henny, zu ihrem Parfum, ihrem Stil, ihrem Haus. Carly beugte sich vor, goss einen Schluck in die Erde. Warum nicht? Es sah ja keiner und Henny, da war sie sich sicher, hätte gelächelt.
Da fing etwas ihren Blick, ein blauer Schimmer, hinter den Astern an den Grabstein gelehnt.
Eine große Miesmuschel, auf die Röhrenwürmer helle Zeichen geschrieben hatten.
Hennys Muschel aber lag zuhause auf dem Küchenregal.
Zuhause? Hatte sie „Zuhause“ gedacht?
Und Joram?
„Auf diese Weise gibt mir das Meer in deinem Namen zu verstehen, dass du nicht fort bist, nicht so weit fort, als dass du mir nicht noch nahe bist ...“
War er also doch in der Nähe, wie Henny bis zum Schluss behauptet hatte? Hatte er die Muschel dorthin gelegt?
Carly spürte, wie ein Kribbeln ihre Wirbelsäule hinauflief.
Zur Beruhigung goss sie sich noch einen Becher Tee ein, fühlte, wie die Wärme sich in ihr ausbreitete.
Wie mochte Henny nur zumute gewesen sein, als Joram verschwand? Sie versuchte, sich vorzustellen, dass Thore von heute auf morgen nicht mehr da wäre. Wenn sie ihn nicht anrufen, nicht auf ein Wort, nicht auf eine Berührung, nicht auf ein Wiedersehen zählen könnte, nicht wüsste, wie es ihm ging, ob er noch lebte. Nicht wüsste, was passiert war. Ob er einen Unfall hatte, ein Verbrechen geschehen oder ob er freiwillig gestorben oder gegangen war und wenn gegangen, wohin.
Der bloße Gedanke verursachte hilflose Verwirrung in ihrem Kopf und einen dumpfen Schmerz ohne Horizont.
Was wusste sie von Joram? Er war Künstler gewesen, der mit Holz offenbar leichter umging als mit Menschen, aber nur im Notfall Aufträge annahm oder etwas verkaufte. Lieber verschenkte er seine Werke. Einer, der Wohnen als eine Tätigkeit, eine Kunst, ja eine Gnade ansah und Henny dabei half, indem er ihr Haus verschönerte, füllte, ihm einen Namen gab, der aber selbst nur knapp möbliert zur Miete hauste, nichts aufhob, am liebsten keine Spuren hinterließ. Dem es manchmal nicht gut ging, weil er „sich nicht immer mochte“, wie Daniel Knudsen gesagt hatte, und der außer Henny keine Freunde wollte. Er hatte jedoch Humor, wie die „Ambi-Ente“ bewies, und Henny hatte ihm etwas bedeutet. Aber was und wie viel?
Carly und Thore verband eine Seelenverwandtschaft (seine Worte), eine intellektuelle Affäre und eine zärtliche platonische Freundschaft. Sie vermutete, dass es bei Joram und Henny sehr ähnlich, wenn nicht genauso gewesen war.
Nur, dass Thore und sie auch andere Freunde hatten: Familie, Kommilitonen, Kollegen. Joram und Henny dagegen schienen jeder für sich, aber auch miteinander allein gewesen zu sein, absichtlich, ihre Freundschaft eine einsame Insel inmitten einer Anzahl wohlgesonnener Nachbarn und Bekannten, die sie nach Möglichkeit nicht ins Haus ließen, mit Ausnahme der kleinen Anna-Lisa. Wie hatte Henny geschrieben?
„Joram, Naurulokki und ich sind wie Wega, Atair und Deneb. Ein harmonisches, ausgewogenes Zusammenspiel; trotz der unabänderlichen Distanz zwischen uns. Wir ergänzen uns, erzeugen ein Leuchten. Allein sind
Weitere Kostenlose Bücher