Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
Vom Netzwerk:
Plastiksack versenkte. Sie fand eine Menge langer Unterhosen und praktischer derber Arbeitshosen und Fischerhemden mit Farbflecken. Die drei besten Fischerhemden hob sie auf, die konnte sie vielleicht noch brauchen, für Gartenarbeit. Auch zwei Pullover rettete sie und einen ganzen Stapel der weichen Baumwollkleider. Am Ende war der Schrank nur halb geleert. Dafür entsorgte sie alle Schuhe, die ihr ohnehin zu klein waren. Es wäre ihr auch zu weit gegangen, in Hennys Schuhen herumzulaufen, wenn sie schon in ihrem Haus wohnte und ihre Kleider trug – und momentan irgendwie auch ihr Leben. Ihr fiel ein indianischer Spruch ein, der über Tante Alissas Schreibtisch gehangen hatte: „Bitte lass mich meinen Nachbarn nicht kritisieren, bevor ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bin.“
    Oben im Schrank fand sie einen Männerpullover, der ganz sicher nicht Henny gepasst hatte. Er roch auch nicht nach Henny. Sondern nach Holz und nach Tabak und nach – ja, Joram, vermutlich.
    Waren sie doch ein Paar gewesen? Oder hatte er ihn unten vergessen, und Henny hatte ihn in ihren Schrank gelegt, um etwas von ihm in der Nähe zu spüren? Seinen Geruch greifbar zu haben? War das nach seinem Verschwinden gewesen oder vorher?
    Carly legte den Pullover zurück.

Henny
1953

17. Im Dunkeln
     

    Henny schob den dicken Schnee von der Bank unter der Kiefer und setzte sich. Die Kälte berührte sie nicht, ihr war ohnehin kalt, schon lange. Nicholas zu vermissen war ein ständiges tiefes Frösteln. Dazu kam der Schmerz über seinen Verrat und die offene Frage nach dem Warum, das sie keine Ruhe finden ließ.
    Seit dem Sommer hatte sie nur mit Kohle gezeichnet. Schwarz-weiß. Dazu passte jetzt erst die Landschaft um sie herum. Seit gestern hatte es geschneit und alles war gnädig mit lautlosem Weiß bedeckt, das scharfe Kanten rundete und Henny wohltat. Als die letzten Flocken austrudelten und die Abendsonne ein gedämpftes Licht auf den letzten Tag des Jahres warf, zog sich Henny an, steckte etwas in ihre Tasche und wanderte Richtung Boddenwiesen. Dort war die Stille ungebrochener als am Strand im Dezemberwind. Sie liebte diesen Weg, aber ihr Ziel war der Friedhof.
    Sie besuchte das Grab ihrer unbekannten Mutter Susanne und ihrer Oma Matilda, nach deren Trost sie sich sehnte. Nun saß sie auf der Bank und drehte das Bernsteinschiff in ihrer Hand hin und her. Vom Sonnenlicht war nur ein fahler Streifen über dem Horizont geblieben, der nicht ausreichte, um die Segel aufblitzen und den Bernstein leuchten zu lassen. Das Schiffchen spiegelte nur die Farblosigkeit der Schneelandschaft wider, auf die der Wind hier und da Sand gewirbelt und braune Spuren hinterlassen hatte. Wie Oma Matildas Marmorkuchen, dachte Henny, und eine Träne tropfte auf ihren Ärmel.
    „Sie sitzen da schon viel zu lange in der Kälte. Kann ich etwas für Sie tun?“
    Als sie aufsah, hockte ein Mann in einem dunklen Mantel vor ihr. Alles an ihm war dunkel. Seine Kleidung, seine etwas zu langen Haare, in denen Schneeflockensterne hingen, seine Wimpern und – nein, seine Augen waren nicht dunkel, sondern blau, stellte sie fest, aber eben ein dunkles Blau – oder doch rauchgrau? meergrün? unmöglich, es festzustellen in diesem Licht. Auf jeden Fall waren sie ungewöhnlich groß, oder wirkten sie nur in der frostklaren Dämmerung so?
    „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
    „Waren Sie auch an einem Grab?“, fragte Henny. Sie brauchte Zeit, um aus ihren Gedanken zurückzufinden.
    „Ja. Mein Bruder liegt hier. Simon Grafunder. Ist lange her. Wir haben früher einmal eine Weile hier gelebt.“
    „Grafunder?“ Henny runzelte die Stirn und sah ihn erstaunt an. Eine Erinnerung tauchte zögernd in ihr auf. „Joram? Bist du nicht auf unsere Schule gegangen, zwei Klassen über mir? Wohnst du wieder in Ahrenshoop?“
    „Nein, ich bin nur auf der Durchreise.“ Er schob ihre Mütze etwas höher, sah sie näher an. „Henny! Du warst das Mädchen mit den manchmal grünen Augen und den schönen Zeichnungen, die im Schulflur aufgehängt wurden.“
    „Und von dir habe ich mal eine Holzfigur auf dem Weihnachtsbasar gekauft.“
    „Gut möglich.“
    „Dein Bruder war lungenkrank, nicht?“, erinnerte sich Henny.
    „Ja. Er hatte Mukoviszidose. Und wen hast du besucht?“
    „Eigentlich wollte ich etwas beerdigen.“ Henny sah auf das kleine Schiff in ihren Händen.
    „Versenkt man Schiffe nicht eher?“
    „Naja. Es steht für eine Liebe. Eine Zukunft.“
    Er stand

Weitere Kostenlose Bücher