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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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allein hier? Das Kribbeln in ihrem Nacken kam nicht nur von ihrem Sonnenbrand. Die alten Baumstämme wirkten wie stille Figuren, auf einmal sah sie Gesichter in ihnen und Arme, die lautlos in alle Richtungen griffen. Von der Straße draußen, von dem Dorf und den Touristen war nichts mehr zu ahnen, der Urwald war eine Welt für sich. Für einen Augenblick fragte sie sich, ob die Welt draußen noch da sein würde, wenn sie den Wald wieder verließ. Falls sie den Weg hinaus überhaupt fand. Da fiel ihr ein, dass es ja nur diesen einen Weg gab, und selbst dieser war eine Sackgasse. Er hörte kurz vor der anderen Seite des Waldes einfach auf, wie eine Geschichte, die zu Ende ist. Sie hatte sich das am ersten Tag auf der Karte angesehen. Verirren konnte sie sich nicht.

    So unheimlich es hier war, so sehr faszinierte sie dieser Ort. Es lag ein schimmernder und gleichzeitig dunkler Zauber darüber, eine herausfordernde Verwunschenheit, Geheimnis und Verführung. Hier im Baumdickicht war das Meer weder zu hören noch zu ahnen, und diese Abwechslung tat ihr wohl. Carly ging tiefer in den Wald, fühlte sich wie Rotkäppchen. Statt des Wolfs traf sie drei Hirsche, die vor ihrem Schritt die Flucht ergriffen, bevor sie ihnen nahe genug gekommen war um mehr als ihre fernen Silhouetten zu sehen. Auf einem gefallenen Stamm ruhte sie sich eine Weile aus, stellte sich vor, ein Baum zu sein, der hier wuchs. Hier, nur hier an genau diesem Ort stehend, das ganze Leben lang, von Anfang an, durch alle Jahreszeiten, Frost, Hitze, die Wurzeln immer tiefer in das Land treibend, die Spitze in den Himmel, im Gespräch mit dem Wind, vom Sturm ungebrochen bis auf ihren letzten Tag, in den sie fiel. Der Gedanke war angenehm. Carly dehnte ihn aus, vergaß die Zeit, bis die sinkende Sonne einen schrägen Strahl zwischen den Stämmen hindurchmogelte. In dem Lichtkegel tanzten funkengleich Mücken, und nun wünschte sich Carly, eine von ihnen zu sein, lautlos, selbstvergessen und leicht auf der Dämmerung kreisend. Sie trat näher, entdeckte, dass dieses filigrane Ballett über einer tiefen Pfütze stattfand. Das Wasser darin war braun und doch glasklar. Sie sah gelbe Blätter auf der Oberfläche treiben, erste Herbstblätter, und auf dem Grund lagen andere, ebenso in Farbe und Form unversehrt. Ein Echo von Grün und Blau schaukelte als Spiegelung dazwischen: ein zweiter, tieferer Himmel. Es war wie ein Abbild dessen, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte.
    Die Lebenden treiben auf der Oberfläche, dachte Carly, doch die Toten, in der Tiefe ruhend, haben nichts von ihrem Leuchten und ihrer Wirklichkeit verloren. Es ist nur nicht mehr ihre Zeit, aber das heißt nicht, dass ihre Zeit an Gültigkeit verloren hat. Die Stimmen meiner Eltern, ihre Gesten, ihre Anwesenheit waren wahr und sind es noch, nur anders. Jorams und Hennys Gedanken sind so gegenwärtig wie die goldenen Blätter dort unten im Schlamm. Rory, Teresa, Amal, Valerie schimmern klar sichtbar auf dem Grund meiner Erinnerung.
    Carlys Spiegelbild schwebte irgendwo zwischen den oberen und den gesunkenen Blättern, sah beiden ins Auge, bis sie ihre Hand in das kühle Wasser tauchte. Die Bewegung zog die lebendigen Blätter von der Oberfläche in einen Strudel; die auf dem Grund ruhenden wirbelten auf. Beide trafen sich in der Mitte, vermischten sich.
    Genau so ist es gerade, dachte Carly.
    Merkwürdig beglückt beschloss sie, den Waldweg heute nicht zu Ende zu gehen. Es wurde zu dunkel. Sie kehrte um und sah auf dem Rückweg so viele interessante Wurzeln und Äste liegen, in denen sich angedeutete Gestalten fanden, dass sie Jorams Gegenwart deutlich zu spüren glaubte: Es war, als ginge er neben ihr und wiese sie darauf hin. Am liebsten hätte sie die kleineren Stücke alle mitgenommen, doch sie dachte an den Haufen Holz im Keller und daran, dass sie das Haus räumen und nicht füllen sollte. Nur ein geschwungenes Wurzelstück, über das sie stolperte, behielt sie dann doch in der Hand. Es ähnelte so deutlich einer fliegenden Möwe, dass sie nicht widerstehen konnte.

    Zögernd trat sie auf die Straße hinaus, entschlossen, möglichst bald wieder diesen Wald zu besuchen, der wie ein Lebewesen war, freundlich und gefährlich zugleich.
    Sie war müde, doch wie berauscht von den Geschichten, in die sie heute geraten war, und beschloss daher, einen Umweg an Daniels Laden vorbei zu machen. Zwar waren die Geschäfte schon geschlossen, aber Daniel hatte die Angewohnheit, abends oft noch in dem

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