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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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Oberfläche sorgfältig glättete. Im Flur über der Haustür war ein leerer Haken an der Decke. Der hatte sie schon von Anfang an gestört. Jetzt malte sie der Möwe mit Bleistift noch dezente Augen und hängte sie triumphierend so auf, dass die Tür gerade noch aufging, ohne dagegen zu stoßen.
    „Hier hast du Wind zum Fliegen. Und wenn jetzt jemand reinkommt, der nicht hierher gehört, kannst du was fallen lassen“, sagte Carly.
    Jetzt merkte sie erst, wie müde und hungrig sie war. Kein Wunder. Sie hatte eine Zeitreise gemacht. Carly schmierte sich ein Käsebrot, ohne sich hinzusetzen, sah beim Kauen die Post durch, die immer noch für Henny kam. Eine weitere Mahnung von einem Zeitschriftenversand, eine Einladung zu einer Vernissage in einem Künstlerhaus, ein Kleiderkatalog und eine Postkarte. Ob Thore ihr aus Ägypten geschrieben hatte? Unwahrscheinlich. Er hatte noch nie eine Postkarte geschrieben. Aber er hatte ihr auch noch nie einen Blumenstrauß geschenkt, und nun standen Dahlien im Flur.
    Doch die Karte war nicht aus Ägypten. Sie war aus Dänemark. „Skagen“, stand unter dem Bild.
    Carly kannte die Schrift auf der Rückseite.
    Und der Text begann mit „Liebe Henny“ und endete mit „Fortsetzung folgt, Joram.“

26. Flömer
     

    Carly wachte mit der Sonne auf. Mit einer dampfenden Teetasse in der Hand wanderte sie barfuß ins Büro. Sie hatte sich vorgenommen, endlich den Schreibtisch zu Ende aufzuräumen, denn der gehörte auf jeden Fall zu dem Inventar, das Elisa schätzen sollte. Sie hatte immerhin schon so viel Platz darauf geschaffen, dass man erkennen konnte, dass es sich um ein ungewöhnliches Stück handelte.
    Auf der freien Fläche lag die Postkarte von Joram. Ungläubig hatte sie sie gestern wieder und wieder gelesen. Einfach war das nicht, denn er hatte in einer ungewöhnlich winzigen Schrift so viel wie möglich auf die Karte gequetscht, zum Glück hatte sie Übergröße.
    „Liebe Henny!
    Es tut mir leid, dass ich ohne ein Wort verschwunden bin. Ich bin in Skagen, sitze im Sand auf Grenen, das ist eine schmale Landzunge an der nördlichsten Spitze Dänemarks. Es ist unglaublich hier! Das ist genau meine Sorte Ort, nur müsste man allein sein. Leider verjagen jede Menge Touristen die tiefe Poesie. Trotzdem bin ich in meiner eigenen Stille Zeuge der Begegnung zweier Meere. Nordsee und Ostsee treffen hier aufeinander. Man hat die Möglichkeit, mit jedem Fuß in einem anderen Meer zu stehen. Die Wellen stoßen zusammen und für einen Moment kann das Wasser nur noch Richtung Himmel. Es ist wie eine schäumende, flüchtige und doch ewige Feier. Diese Vereinigung zeichnet eine Linie, die von meinen Füßen direkt zum Horizont weist. Endlich einmal eine Welle, zu der man nicht quer steht oder denkt, sondern die ein Weg ist oder ein Tor, zumindest ein Wegweiser. Etwas, das führt, etwas, das lockt. Beständig und doch immer in fließender Bewegung. Schade, dass du nicht hier bist. Wahrscheinlich wärest du mitgekommen, wenn ich dich gefragt hätte. Dies ist der erste Ort, an dem ich das Gefühl habe, für immer bleiben zu können. Nein, falsch: der zweite. Denn ich habe über das nachgedacht, was du mich gefragt hast. Die Antwort überrascht mich. Ich brauche noch ein wenig Zeit, aber dann ...
    Fortsetzung folgt, Joram.“

    Der Poststempel war vom fünften November. Das war einige Zeit nachdem Joram zuletzt gesehen worden war. Aber warum kam die Karte jetzt an, Monate später? Nun ja, vielleicht gab es noch mehr Briefträger, die nicht Fahrrad fahren konnten. Vielleicht hatte sie irgendwo gelegen, so wie Teresas Brief im Gras.
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, eine Karte von Joram zu lesen, die Henny nie zu Gesicht bekommen hatte.
    Joram war also im November in Dänemark gewesen. War er tatsächlich einfach in Skagen geblieben? Warum hatte er dann nicht noch mehr Briefe oder Karten geschrieben?

    Carly versuchte, sich auf den Schreibtisch zu konzentrieren. Sie heftete die letzten uralten Rechnungen ab, die zum Teil schon vergilbt waren und die Thore wahrscheinlich wegwerfen würde. Aber sie wollte ihn zuerst fragen. Die verstaubten Kunstmagazine ordnete sie kurzentschlossen dem Altpapier zu. Unter dem letzten Haufen entdeckte sie ein kleines, abgegriffenes Adressbuch. Sie steckte es zusammen mit Jorams Karte in ihre Hosentasche. In der Küche suchte sie nach einem weichen Lappen, mit dem sie behutsam die Staubschichten von dem befreiten Schreibtisch entfernte. Jetzt erst war sichtbar, dass

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