Das Meer in deinen Augen
der Hand hatte er immer noch das feuchte Kondom. Er warf es in den Busch.
»Liegt es an mir?« Kurz hatte er gehofft, sie wäre zu betrunken, um zu merken, dass er nicht gekommen war. Benjamin schwieg und stopfte das Hemd in die Hose. Jenny lehnte noch an der kalten Wand und starrte ihn an wie einen Fremden.
»Bin ich nicht gut genug?«, flüsterte sie mit dünner Stimme, schob das kurze Kleid wieder nach unten und rückte BH und Dekolleté zurecht. Der Slip lag noch auf dem Asphalt. Keine Sekunde lang hatte er etwas empfunden. Jetzt, da er sie anschaute, hätte er heulen können. Es schnürte ihm die Kehle zu, sie so sehen zu müssen und nicht einmal zu wissen, wer ihm mehr leidtun sollte. Sie oder er sich selbst. »Ja?«, fragte sie nach. Wieder standen ihr die Tränen in den Augen.
Benjamin blieb ihr eine Antwort schuldig, rückte die Krawatte zurecht und knöpfte das Jackett wieder zu.
»Sag doch was.« Sie wurde lauter, ihre Stimme bebte.
Benjamin holte das Portemonnaie hervor und suchte nach einem Fünfziger. »Hier, nimm dir ein Taxi.«
Er schaute auf den Boden vor ihr, während er ihr den Schein entgegenhielt. »Nimm ihn, komm.«
»Ich bin keine Schlampe«, zischte sie leise. Inzwischen konnte er sie nicht länger reden hören.
»Nein, das bist du nicht«, seufzte er. »Also … nimm.« Sie riss ihm das Geld aus der Hand und verschwand.
Tack-tack, machten die Schuhe. Es hallte laut wider, und doch hörte sie niemand. Aus der Halle dröhnten immer noch die Bässe der Liveband. Jennys hohe Absätze verfingen sich in einer Fuge. Viel fehlte nicht, dass sie stürzte. Im letzten Moment fing sie sich wieder. Um das bisschen Würde, das ihr geblieben war, zu retten, schien sie nun die letzten Meter umso aufrechter gehen zu wollen. Noch ein letztes Mal schaute sie sich um, bevor sie in die Straße einbog. »Scheiße, es tut mir leid.« Er rief es viel zu leise. »Scheiße, Jenny. Komm zurück.« Er versuchte lauter zu rufen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er schwankte, während er hinter ihr herschlurfte. Das Taxi rauschte an ihm vorbei. Sie bemerkte ihn gar nicht. Diesmal spürte er selbst eine Träne auf seiner Wange. Er wischte sie weg, aber die nächste kam. Scheiße, jetzt wurde er wirklich schwach. Fröstelnd schlich er zurück zu den Müllcontainern. Erneut überkam ihn dieser eisige Schauer.
Benjamin starrte wieder auf den Boden, wo noch der Slip lag. Er bückte sich und hob ihn auf. Den hatte Jenny sich bei Victoria’s Secret in Köln gekauft, als sie zusammen shoppen waren.
Sie hatte in der Umkleide gestanden und ihn sich vor die Brust gehalten. »Wie sieht der aus?«
Komisch, dass er sich daran überhaupt noch erinnerte. Vielleicht, weil das die Dinge waren, die er mit ihr verband. Er warf den Slip in das Dickicht hinter dem Parkplatz. An der kalten Wand konnte er sich abstützen. Sein Kopf wurde nicht leichter. Er würgte, doch erbrechen konnte er sich nicht. Er spuckte stattdessen nur aus, ehe er wieder durch den Hintereingang die Halle betrat.
»Wo ist Jennifer?« Sein Vater stand im Foyer und rauchte. Um das Verbot scherte er sich nicht. So war er. Der Sicherheitsdienst am Eingang sagte kein Wo rt. »Ihr ging’s nicht gut«, murmelte Benjamin nur. Auf einmal war er merkwürdig wach. Alles wurde langsamer, die Bilder klarer. Ganz als hätte ihm jemand eine Ohrfeige verpasst. Eine, die er verdient hatte. He’d say ›I’m gonna be like you, dad. You know I’m gonna be like you.‹ Die Band spielte Harry Chapin: He’d grown up just like me. My boy was just like me. And the cat’s in the cradle and the silver spoon. Little boy blue and the man on the moon.
»Wir fahren auch gleich«, bemerkte Benjamins Vater. »Scheiß Catering«, fluchte er weiter und kippte den Wein in eine Blumenvase.
»Komm, Mama wartet schon draußen.« Er warf die Zigarette auch in die Vase und verließ, die Hände in den Hosentaschen, die Halle.
5
Emma war früh aufgewacht. Sie hatte vergessen, die Jalousie herunterzulassen. Die Lamellen zerschnitten das Licht in viele schmale Streifen, die jetzt auf ihr Bett fielen. Mit den Händen drückte sie das weiche Kissen an sich. So gut hatte sie lange nicht geschlafen. Im Traum hatte sie alles noch einmal durchlebt, wieder gespürt, genauso intensiv. Langsam verblassten die Bilder. Ein neuer Tag hatte begonnen. Das Handy lag vor ihr auf dem Nachttisch. Die Möglichkeit, seine Stimme zu hören. So war sie nicht. Das wäre aufdringlich. Zurückhaltung war
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