Das Meer in deinen Augen
oder?« Benjamin hatte diesen Ausdruck noch nie auf Finns Gesicht erlebt. Niemand antwortete. Auch Benjamin nicht. Er hob nur die Schultern und ging hoch in sein Zimmer.
Der Koffer lag aufgeklappt neben seinem Bett. Die Kleidung verstreut im Zimmer. Nichts davon würde er je wieder tragen wollen. Die Bü gel der Ray Ban Aviator auf der Kommode waren verbogen. Dieses Zimmer, dieses Haus, war ein ande rer Ort. Plötzlich nahm er jedes Detail wahr, das ihm vorher nie aufgefallen wäre. Das Bild über dem Bett. Ein Ölgemälde auf riesiger Leinwand, das wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hatte. Aber erst jetzt studierte Benjamin den unscharfen und doch feinen Pinselstrich, bis er eintauchte und dort im Sand zu stehen glaubte, wo im Bild der einsame Mann auf den Horizont schaute, als wäre allein die Unendlichkeit sein Ziel. Benjamin wachte auf, als wieder eine Welle gegen die Klippe schlug und ein kalter Luftzug durchs Fenster hineingetragen wurde. Er war schon im Begriff zu gehen, als er sich im Spiegel sah. Er konnte seinem eigenen Blick kaum standhalten. Hätte nicht ebenso gut er springen können? Warum überhaupt der Sprung? Weil er und Finn ihn gedrängt hatten? Er dachte den Gedanken nicht zu Ende, denn er wusste, wo er hinführen würde.
8
Wie eine Marionette stapfte Benjamin die Treppe herunter. Als er auf der drittletzten Stufe angekommen war, bemerkte er seinen Vater, der vor ihm stand.
»Komm, ich bind sie dir«, sagte er nüchtern und deutete auf Benjamins Krawatte, die er sich nur wie einen Strick um den Hals geschlungen hatte. Es war ihm so verdammt egal, wie sie saß. Die drei letzten Schritte setzte er bemüht langsam. Sein Vater brauchte nur vier routinierte Griffe, dann zurrte er den Knoten fest und klopfte seinem Sohn mit einem Nicken auf die Schulter. »So.« Als sei alles getan.
»Passt der Anzug?«, fragte seine Mutter im Vorbeigehen und verschwand im Bad. Sie beobachtete Benjamin kritisch in dem riesigen Spiegel durch die offene Tür, während sie ihren Lidstrich noch einmal nachzog. Den schwarzen BOSS -Anzug hatte sie ihm heute Morgen auf sein Bett gelegt, nachdem er sich in den letzten Tagen nicht selbst um einen neuen gekümmert hatte. 600 Euro, sagte das Preisschild. Benjamin wusste, dass er den Anzug heute das erste und letzte Mal tragen würde. »Sitzt die Frisur?«, erwiderte Benjamin also nur herausfordernd. Seine Mutter kam mit klackernden Absätzen zurück und schenkte ihm einen dieser unmissverständlichen Blicke, anstatt etwas zu sagen. Du solltest dich lieber benehmen, aber wir wissen ja, was du durchmachst. Das Schweigen kotzte ihn an. Stumm knöpfte sie ihrem Sohn das Jackett zu und schaute ihn von oben bis unten genau an.
»Du hättest mal zum Friseur gehen können.« Erst als sie begriff, dass Benjamin nicht antworten würde, drehte sie sich um. »Wir können gehen, oder?«
Während der Fahrt setzte sich das Schweigen fort. Der 500 PS starke Motor des neuen Siebeners war im Auto kaum zu hören. Schwarzer Lack. Das passte irgendwie. Cremefarbene Sitze. Das irgendwie nicht. Nur ab und zu knarrte das frische Leder, wenn Benjamins Mutter nervös in ihrem Sitz hin und her rutschte und im Spiegel der Sonnenblende ihre Haare streng prüfte. Benjamin war sich sicher, dass er einen hätte fahren lassen können und niemand hätte etwas gesagt.
Oma war vor vier Jahren gestorben. Das war die erste Beerdigung gewesen, auf der Benjamin gewesen war. Klar – er hatte ein paar Tränen nicht unterdrücken können. Weil man einfach nicht anders kann, wenn Verwandte sterben. Nur Opa hatte nicht ge weint. Er war wie versteinert gewesen. Benjamin hatt e schnell vergessen. Denn an was erinnerte er sich schon, wenn er an Oma dachte. Großzügige Geburtstagsgeschenke, die immer gleichen Geschichten und dieser Geruch, den alte Menschen so haben. Aber alte Menschen sterben nun mal. Benjamin war dreizehn gewesen. Heute war er fast achtzehn Jahre alt – Luka, wenn er noch lebte, nur wenige Monate jünger – und ihn, mit dem er seine ganze Jugend geteilt hatte, sollte er heute beerdigen. Heute würde also alles etwas anders sein. Keine Routine.
Finn kam alleine. Sein Vater fuhr wieder ab, nachdem sein Sohn ausgestiegen war. Auch Finn trug einen Anzug. Ein ungewohnter Anblick. Seinem Gang merkte man es an – das letzte Mal, dass er sich so gekleidet hatte, war sicher seine Konfirmation gewesen. Genau wie Benjamin hatte er sich seit Wochen nicht mehr rasiert. Sie begrüßten sich mit einer
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