Das Meer in deinen Augen
steifen Umarmung, die sich fremd anfühlte. Schnell lösten sie sich und tauschten flüchtig Blicke, bevor sie nacheinander die Friedhofskapelle betraten.
Emma hatte sich in die letzte Reihe gesetzt. Sie wollte keine Fragen mehr hören. Mama hatte gefragt, ob sie mitkommen sollte. » Vielleicht tut dir das gut, wenn du nicht alleine da bist.«
»Nein.«
»War er dein Freund?« ,hatte sie nachgehakt.
Emma hatte sich die Antwort gespart. Sie wusste es ja selbst nicht genau. Sie würde sich wohl nie sicher sein können.
Warum hatte sie nicht einmal mehr geweint? Nur als sie die Nachricht erhalten hatte. Nach dem Ausbruch fühlte sie nur noch eine merkwürdige Leere in sich. War sie herzlos? Den Blicken wich sie aus und sah stattdessen auf den hölzernen Sarg, der ganz vorne stand. Eine Rose hatte sie dort bereits abgelegt. Eine weiße. Die kleine Kapelle füllte sich allmählich. Die alten Damen waren sicher Lukas Großmütter. Vielleicht auch Großtanten. Emma kannte niemanden von ihnen. Und niemand kannte sie. Nur der Pfarrer hatte sie bisher mit einem höflichen Guten Tag bedacht, als sie sich in das Kondolenzbuch eingetragen hatte. Ganz unten hatte sie ihren Namen klein und unleserlich auf die Seite gesetzt. Sie war die erste gewesen. Auffallen wollte sie nicht.
»Du warst Lukas Freundin?« Ein Mann stand neben ihr und lächelte matt. Die Hände hatte er vor dem Körper verschränkt. Emma nickte nur stumm, auch wenn sie sich gar nicht mehr so sicher war. Zu ihrer Erleichterung beließ er es vorerst dabei und stellte sich stattdessen vor: »Ich bin sein Vater.«
»Emma«, erwiderte sie und versuchte auch zu lächeln.
»Du kannst uns ja mal besuchen kommen. Wir würden uns freuen, dich kennenzulernen.«
Emma wusste, dass sie nicht auf das Angebot zurückkommen würde. »Danke«, entgegnete sie trotzdem höflich. Der Mann blieb noch eine Weile stehen und schüttelte ein paar Mal gedankenverloren den Kopf. Sein gutmütiges Gesicht besaß kindliche Züge, die sein fortgeschrittenes Alter verbargen. Die Konturen kannte Emma. Aber jetzt machte es ihr Angst, so alt, so anders – ein verzerrtes Spiegelbild der Erinnerung.
»Bis dann, Emma«, verabschiedete er sich und ging weiter bis zur ersten Reihe, wo er sich neben seine Frau setzte, die nur wie versteinert auf den Sarg starrte.
»Wir trauern heute um einen Jungen, dessen Leben auf tragische Weise ein viel zu frühes Ende gefunden hat. Luka Klose ist von uns gegangen. Die Menschen, die Luka gekannt haben, beschreiben ihn als jemanden, der zuerst an andere, dann erst an sich selbst gedacht hat. Luka hatte Träume und Pläne, wie sie jeder in diesem Alter hat.«
Was waren eigentlich seine Träume, seine Pläne, fragte sich Benjamin.
Emma spürte, dass es ein fremder Mensch war, von dem der Pfarrer da erzählte. Jemand, den man mit Worten beschreiben kann, den man greifen kann. Ihr selbst gelang das nicht mehr. Was wusste sie schon von Lukas Träumen? Was wusste sie überhaupt von ihm? Nichts. Die Bilder wurden immer blasser mit jedem neuen Satz.
»In diesen Momenten erscheint uns die Welt so ungerecht, so unbarmherzig, dass es uns schwerfällt, überhaupt an etwas zu glauben. Aber wir sollten nicht im Moment des Todes am Leben zweifeln …«
Benjamin konnte nicht länger zuhören. Es war ihm, als beobachtete ihn jemand. Vielleicht Luka. Vielleicht Gott, wenn es ihn gab. Wie gebannt blieb er sitzen, sah unverwandt nur geradeaus auf den Altar, als könnte er sich so vor seinem Beobachter verstecken. » Spring doch, du Pussy.« Auch er hatte gelacht. Stark hatte er sich gefühlt, nachdem er das erste Mal gesprungen war. Auf einmal kam es ihm völlig absurd vor, je wieder zu lachen. Auch trinken würde er nicht mehr. Wahrscheinlich schuldeten sie Luka das. Wer konnte schon wissen, ob all das passiert wäre, wenn sie alle einen klaren Kopf gehabt hätten? Es galt nun, die Fehler nicht zu wiederholen.
Kurz schielte er zu Finn rüber. Sie spielten mit Pokerface. Dabei wussten beide allzu genau, was im anderen vorging. Es kam ihm vor, als schnüre die Krawatte ihm die Luft ab. »Wenn das Unrecht sich so offen zeigt, suchen wir nach Schuldigen. Auch bei uns selbst.« – Luka wollte nicht springen. Sie hatten ihn gedrängt, ihn herausgefordert. – »Doch diese Suche wird unergründlich sein. Also hören wir auf, in die Finsternis zu tauchen. Folgen wir besser dem Licht.« Benjamins Hände verkrampften sich. Er biss die Zähne zusammen. Er würde nicht weinen. Erst
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