Das Meer in deinen Augen
als die Orgel ertönte, verschwand der Krampf langsam. Lukas Eltern standen auf und schritten an ihm vorbei. Hinter ihnen Falk, Lukas Bruder. Ihre Blicke hatten sie zum Boden gesenkt.
»Na komm«, flüsterte Benjamins Vater und erhob sich. Langsam gingen sie durch die Reihen auf die Tür zu. Noch einmal schaute er sich um. Der Sarg war aus heller Buche, fein geschliffen und schlicht. Darin lag Luka. Hatte er überhaupt etwas gespürt? Benjamin fühlte sich nach wie vor beobachtet. Kurz bevor er die Tür erreicht hatte, traf ihn ihr Blick. Emma. Ganz in Schwarz war sie gekleidet. Ob sie ihm die Schuld gab? Natürlich, wer sonst hätte es verhindern können? Kein Wort sagte sie. Keine Begrüßung. Dann fand er sich draußen auf dem Kiesweg vor der Kapelle wieder. Ihre Augen ließen ihn immer noch nicht los.
Jetzt, da er näher kam, konnte sie nicht anders, als ihn genau zu betrachten. Benjamin, der in der Schule immer so großspurig aufgetreten war. Ein richtiges Arschloch. Emma hatte ihn nie gemocht. Sein dunkelblondes Haar, das er immer so lässig gestylt getragen hatte, war jetzt verfilzt und wild. Vereinzelte Bartstoppeln rahmten das fahle blasse Gesicht ein. Kein Selbstbewusstsein. Stattdessen ein verzweifelter Blick.
Eine Reaktion fiel ihr nicht ein. Sie starrte ihn einfach an. Was sollte sie jetzt von ihm halten? Einen Vorwurf konnte sie ihm nicht machen.
Sie wartete, bis auch der Letzte die Kapelle verlassen hatte, wartete, als könnten jetzt noch die Tränen kommen. Es würde nicht mehr passieren, erkannte sie, als die Orgel verstummte.
9
Die Stunden vergingen wie Tage, die Tage wie Wochen. Fast jede Sekunde verbrachte Benjamin in seinem Zimmer. Draußen war es heiß, 35 Grad im Schatten, sagte das Radio. Diese immer fröhlichen Stimmen des Moderatorenteams konnte er nicht mehr hören: »Das ist vielleicht eine verdammte Hitze heute, Lissy. Du schwitzt ja auch schon ganz schön. Oder liegt das an mir?«, »Zeit für’s Freibad, oder Leute?« Albernes Gelächter. »Ruft uns an, und sagt uns, was ihr heute bei dem geilen Wetter macht.« Benjamin hatte die Lautstärke nach unten gedreht. In dem Berg von Wäsche und Schulbüchern, der sich im ganzen Zimmer aufgetürmt hatte, stand ein Ventilator und übertönte die leise Musik. Die Rollläden schirmten ihn vor der Welt ab. Nur durch einen schmalen Spalt fiel noch Licht. Auf der Fensterbank hatte sich eine Batterie leerer Wasserflaschen angesammelt. Der schmale Lichtkegel brach sich an dem grünen Glas und färbte den Staub. Ganz langsam führte Benjamin einen Finger hindurch und unterbrach die Strahlen für einen Moment. Durch das geklappte Fenster dröhnte der Lärm vom Pool. Paula hatte Besuch. Franzi lachte aufgesetzt.
Das Klopfen an der Tür weckte ihn nicht. Er blieb tief versunken in dem Sessel, den er in die Mitte des Zimmers geschoben hatte, sodass er genau im Luftzug des Ventilators saß. Durch die Tür flutete das helle Tageslicht. Ohne sich umzudrehen wusste er, dass es sein Vater war. So öffnete seine Mutter die Tür nicht. Sie klopfte dezenter und drückte die Klinke behutsam herunter. »Ich hab Nudeln gekocht, kommst du runter?« Weiter blieb Benjamin für seinen Vater hinter der Rückenlehne verborgen und beobachtete bloß die Silhouette im Spiegelbild der Fensterscheibe.
»Gleich«, antwortete eine fremde Stimme für ihn.
»Ich warte unten auf dich.«
Die Tür blieb offen stehen.
»Ich hab mir für die nächste Woche Urlaub genommen. Mama will morgen nach Ibiza. Das Ganze hat ihr nicht so gut getan. Frauen … weißt ja, wie die sind. Paula nimmt sie mit.« Sollte ihn das interessieren? Benjamin schaute kurz auf.
»Dachte mir, es wäre ganz gut, wenn wir ein bisschen Zeit miteinander verbringen.« Er merkte, wie sein Vater versuchte, seinen Blick einzufangen. »Du weißt schon, unter Männern.« Jetzt lag seine Hand auf seiner. Auch wenn es ihm unangenehm war, zog Benjamin sie nicht weg.
Er nickte stumm und starrte weiter auf das Essen. Sein Vater hatte sich Mühe gegeben. Linguine mit Tomate und Basilikum, darauf gehobelter Parmesan.
»Wir könnten gemeinsam zum Fußball. Ich will die Logenkarten nicht wieder verfallen lassen.«
Er würde wohl nicht aufgeben, bevor Benjamin nicht antwortete. »Meinetwegen.« Irgendwie musste er ja wieder ins Leben zurückfinden – und wenn das bedeutete, dass er in der verglasten Stadionlounge mit den Geschäftspartnern seines Vaters anstoßen würde –, das war schließlich die Welt, in die er
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