Das Meer in deinen Augen
dir geht.« Lilly stand jetzt hinter ihr. Ihr Spiegelbild schaute Emma in die Augen und schenkte ihr einen aufmunternden Blick.
»Willst du reden?«
Emma schüttelte den Kopf. »Ist schon okay. Ich komm klar.«
»Typen kommen, Typen gehen. Scheiße, ich hätte nicht gedacht, dass mal so was passiert.«
Lilly konnte einfach nicht sensibel sein. Direkt wie immer. Aber eigentlich tat es Emma ganz gut. Sie brauchte jetzt genau das. Eine Freundin, die ehrlich und schonungslos war.
»Gehen wir nachher feiern? War nur so eine Idee. Wenn dir nicht danach ist, ist das okay.«
»Ja, können wir machen.« Plötzlich war es genau das, was sie wollte. Auch wenn sie noch zweifelte, ob sie durfte.
»Find ich gut. Du musst auf andere Gedanken kommen.«
»Hey, wir müssen los, oder?«
Lilly packte hastig ihre Tasche, als es klopfte. Ihr kleiner Bruder stand in der Tür.
»Was willst du?« Sie war gereizt.
»Ich soll dich fragen, ob du mich morgen abholst oder nicht.« Er war ziemlich gelassen. Den Ton war er von seiner großen Schwester gewohnt. Lilly sah ihn genervt an und ließ die Leggins fallen, die sie gerade aus dem Schrank gesucht hatte. »Komm, geh wieder zu Mama.« Er ließ sich nicht von ihr aus der Tür stoßen, sondern sträubte sich. Lilly packte ihn am Arm.
»Jetzt verpiss dich.« Diesmal war er nicht imstande, sich zu wehren. Die Tür knallte wieder. Die Poster an der Wand flatterten durch den Windstoß.
»Sorry«, seufzte Lilly, rieb sich die Schläfen und schaute Emma an, als bemerkte sie erst jetzt, dass ihre Freundin noch da war.
Nach einer Stunde verabschiedete Sylvie sie pünktlich: »Schluss für heute, Mädels. Ich seh euch in drei Wochen.« Emma wollte heute noch nicht aufhören. Es war richtig gewesen, wieder anzufangen, sich auszupowern. Die Anstrengung hatte die Erinnerung blass werden lassen.
»Dachte, wir gehen heute mal wieder auf den Kiez«, schlug Lilly vor, während sie auf dem Weg zur Umkleide waren. Sie meinte die Königsstraße im Bahnhofsviertel, wo sich Bars und Discotheken aneinanderreihten. Es war noch nicht lange her, dass sie dort gefeiert hatten, und doch kam es ihr wie eine Ewigkeit vor.
»Okay«, antwortete Emma nur und folgte ihr. Sie nahmen wie immer die hinteren Duschen. Obwohl das Wasser langsam warm wurde, fröstelte es sie und ließ ihr die kleinen Härchen auf der Haut zu Berge stehen. Sie war sich unsicher, ob es eine gute Idee gewesen war, zugesagt zu haben. Jetzt konnte sie es nicht mehr ändern. Sie schaute auf und sah Lillys Augen funkeln.
»Das wird geil.« Sie war schon fertig und hatte sich in ihr Handtuch gewickelt. Im Vorbeigehen gab sie Emma einen Kuss. »Ich warte draußen.«
»Willst du auch eine?« Lilly hatte eigentlich aufgegeben, ihr Zigaretten anzubieten.
»Oh. Wer hätte das gedacht?«, staunte sie, als Emma sich bediente und Feuer geben ließ. Mit ihrer Hand schirmte sie die Flamme gegen den Wind ab. Emma dachte dabei unwillkürlich an ihren Vater. Der hatte immer nach einem Streit auf dem Balkon gestanden, geraucht und nach draußen ins Leere gestarrt. Jetzt nahm sie selbst ihren ersten Zug und ihre Finger verkrampften sich um die Kippe. »Richtig einatmen«, erklärte Lilly, als Emma nur vorsichtig zog. »Tiefer«, fügte ihre Freundin hinzu und machte es ihr vor. Gleich darauf lachte sie über sich selbst. Emma versuchte es und spürte diesmal den Nikotinkick, um gleich noch einmal zu ziehen.
Drei Stunden und eine halbe Flasche Wodka später fuhren sie mit der 7 bis zum Bahnhof. Auf dem Vorplatz glitzerten die zahlreichen Fontänen des Springbrunnens, die von unten angestrahlt wurden. Es gab kein Becken, das Wasser plätscherte auf das Pflaster und lief in die Rinnen ringsherum. Beide sprangen sie kreischend hindurch, ohne nass zu werden.
Durch die Bahnhofshalle gelangten sie geradewegs auf die Partymeile. Musik dröhnte aus den Lokalen, Autos hupten, Pfiffe schrillten über die Straße. Eine Polizeistreife bahnte sich den Weg durch die herumirrenden Nachtschwärmer. Lilly zog Emma in den erstbesten Club.
»Hey.« Lilly konnte das. Sich ohne Umschweife an die Theke stellen und jemanden ansprechen. Die Brust ein wenig raus, ein Zwinkern hier, ein Lächeln da, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Das reichte meistens schon.
»Hi«, grüßten die Typen, auf die ihre Wahl gefallen war. Der Größere von beiden hatte kantige Züge, sein athletischer Körper steckte in einem weißen Shirt mit tiefem V-Ausschnitt. Er strich sich ständig
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