Das Meer in deinen Augen
ihr noch. »Hi, Emma, was ist los?«, meldete sich Lilly am Telefon.
»Soll ich dich abholen? Ich bin schon auf dem Weg.«
»Klar, ich bin aber bei meiner Mutter.« Im Hintergrund hörte man einen Fernseher laufen. »Mach den Scheiß mal leiser, Patrick … Sorry, mein kleiner Bruder.« Lilly war gestresst. Emma überlegte, ob es so eine gute Idee war, sie abholen zu wollen. Eine Tür wurde zugeschlagen. »Also, bis gleich«, verabschiedete sie sich und legte wieder auf. Die Bahn rüttelte und wiegte sie in den harten Sitzen hin und her.
Lillys Mutter wohnte in der Weststadt. In einem der tristen grauen Wohnblocks, die sich zu Dutzenden aneinanderreihten und das Licht zu verschlucken schienen. Auf jedem Balkon war eine Satellitenschüssel platziert. Nach Blumenkästen konnte man lange suchen. »Emma?«, meldete sich Lilly in der Gegensprechanlage.
»Ja.« Es summte, aber die Tür klemmte. »Scheiße.«
Noch mal klingeln. Wieder meldete sich Lillys Stimme. »Ach, diese verdammte Tür.« Es summte erneut und diesmal knackte es. Emma fiel mit der Tür in den finsteren Hausflur. Der Fahrstuhl kam nach einer Ewigkeit. Ein Mann stand bereits in der winzigen Kabine. Dreitagebart und Jeansjacke. Emma musste ihm dicht gegenüberstehen, so eng war es. Auf dem Boden lagen das Verpackungspapier eines Cheeseburgers und ein Aldi-Kassenbon. Der Typ starrte sie an und schien nicht zu merken, dass er vor dem Bedienungsfeld stand. »Sag doch was«, raunte er. Sie schwieg und drückte den zerkratzten Knopf für die Etage. Die 7 leuchtete auf. Die Türen schlossen sich klappernd, dann surrte es und sie fuhren hoch. Der fremde Mann zog ständig den Rotz hoch und es hallte wider, dieses hässliche Geräusch. Emma hatte immer ein leises Unbehagen gespürt, wenn sie Lilly besuchte, doch diesmal wurde ihr bewusst, wie beschissen es sein musste, hier zu wohnen. Wahrscheinlich gewöhnte man sich daran, stellte sie schließlich fest. Im fünften Stock hielten sie an. »Tschüss«, murmelte der Typ und nickte zum Abschied, ehe sich der Aufzug wieder schloss und ihn weiter nach oben transportierte.
Lilly wartete schon. Den Kopf hatte sie gegen den Türrahmen gelegt. »Hi«, grüßte sie und gab Emma einen Kuss auf die Wange, als sie an ihr vorbei in die Wohnung trat. Lilly trug nur eine Jogginghose und ein altes Top und schlurfte auf ihren dicken Stricksocken durch den Flur. Alle Türen in der Wohnung standen offen. Im Wohnzimmer dröhnte immer noch der Fernseher. Patrick war sechs und eigentlich sah Emma ihn meistens auf dem Teppich im Wohnzimmer sitzen, während Cartoons auf Super RTL liefen. Diesmal beobachtete sie ihn zum ersten Mal länger. Sein Blick war nur auf den flackernden Bildschirm gerichtet. Wusste er überhaupt, was ihm im Leben noch bevorstand. Glück und Unglück. Dieser ganze Scheiß. Die Anime-Figuren auf dem Bildschirm küssten sich. Patrick blieb regungslos.
»Na komm, wir gehen in mein Zimmer.« Ihre Freundin holte sie aus ihren Gedanken.
»Hi, Emma.« Das war Lillys Mutter, die in der Küche stand und in einem Topf Spaghettisoße aus de m Glas rumrührte. Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch, das sie in der Hosentasche ihrer ausgewaschenen Jeans verschwinden ließ, und kurz dachte Emma daran, dass sie sich vielleicht bei dem Typen aus dem Fahrstuhl angesteckt hatte. Lilly meinte mal, sie würde irgendeinen Nachbarn vögeln. Emma verwarf die Vorstellung schnell und folgte ihrer Freundin.
»Stellst du die Waschmaschine nachher noch an, Lilly?«, rief ihre Mutter ihnen aus der Küche hinterher.
»Ey, das wolltest du doch machen.« Lilly war stehen geblieben und drehte sich um. Ihre Mutter stand jetzt in der Tür. »Du kannst ruhig mal etwas selbst machen, junge Frau.«
»Ich geh mit Emma tanzen.«
»Mach’s danach oder davor. Ist mir egal.«
»Danach gehen wir feiern.«
Lilly drehte sich wieder um und nahm Emma bei der Hand. Feiern? Danach war ihr überhaupt nicht. Trotzdem widersprach sie nicht. »Lilly! Du machst, was ich dir sage, okay? Ich will auch, dass du daran denkst, dass du deinen Bruder morgen vom Kindergarten abholen musst. Ich hab dieses Bewerbungsgespräch.«
»Fick dich, Mama. Fick dich einfach«, murmelte Lilly und schlug die Tür ihres Zimmers zu. »Scheiße, nervt die … wünschte, Papa wäre nicht im Urlaub.«
Emma stand am Fenster. Unten auf der Wiese vor dem Haus spielten ein paar Kinder Fußball. Lillys Fluchen prallte einfach an ihr ab.
»Hey, ich hab dich gar nicht gefragt, wie’s
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